Unter feindlicher Flagge
Wickham, Sie lieben es doch bestimmt, auf Bäume zu klettern, oder nicht?«
Der Junge lächelte, ahnte er doch, was nun kommen würde. »Mehr noch als Pudding, Sir.«
Der Leutnant deutete auf einen Baum. »Na, dann mal hinauf.«
Die beiden anderen halfen dem Midshipman, bis er einen der unteren Äste zu fassen bekam und sich dann hochzog.
»Und schauen Sie nach der Samtkopf-Grasmücke, haben Sie gehört, Mr Wickham?«, wisperte Hawthorne mit einem Grinsen.
»Mache ich«, kam es ernst von dem jungen Adligen zurück. »Ich kann einen großen Dreidecker sehen, der die Toppmasten überholen lässt, Mr Hayden. Einhundert Geschütze, vielleicht einhundertundzwanzig.«
»Ja, jetzt sehe ich es auch. Die La Côte-d'Or, glaube ich«, sagte Hayden, der wieder durch sein Glas spähte. Derweil kritzelte Hawthorne die Zahlen auf ein Stück Papier. Dreißig Minuten später kletterte Wickham wieder aus dem Baum und strich sich kleinere Zweige und Flechten von der Kleidung und aus dem Haar.
»Was meinen Sie, Sir?«, fragte er, als Hayden die Liste beendete.
»Ich denke, dass dies genau die Angaben sind, die Hart bereits von Landry erhalten hat.«
Hawthorne schüttelte ungläubig den Kopf und machte keinen Hehl aus seinem Unmut. »Verdammter Mist«, fluchte er. »Wir haben unser Leben für nichts und wieder nichts aufs Spiel gesetzt.«
Wickham bedachte ihn mit einem bitteren Lächeln. »Der Mond ist nicht auf unserer Seite, oder?«
Hayden blickte zum Himmel hinauf. »Nein, das dauert noch. Wir werden bei Einbruch der Dämmerung aufbrechen und auf unser Glück hoffen. Sonst müssen wir bis zur Themis schwimmen.«
»Müssen wir wahrscheinlich ohnehin tun«, meinte Hawthorne verärgert.
»Wie meinen Sie das?« Wickham sah den Leutnant der Seesoldaten ahnungslos an.
Hawthorne warf einen Blick auf Hayden und fühlte sich sichtlich unwohl. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass Hart Mr Hayden und mich an Land schickte, um uns loszuwerden.«
Wickham nickte ernst. »Von so einem Vorhaben wäre mein Vater gewiss nicht erbaut«, sagte der junge Midshipman.
Hayden sah Wickham erstaunt an. »Haben Sie sich deshalb von Bord gestohlen?«
»Keineswegs, Mr Hayden. Es ist undenkbar, dass ein Kommandant der Royal Navy einfach so seine Offiziere an feindlicher Küste aussetzt. Ich kam mit, um den Ackerbau zu begutachten.«
»Und, sind Sie damit zufrieden?«, fragte Hawthorne mit einem breiten Lächeln.
»Nun, ich verstehe nichts von der Wissenschaft des Ackerbaus wie manche Gentlemen, aber die Hecken suchen ihresgleichen in ganz Surrey.«
Sie begaben sich wieder in den Schutz der Bäume und blieben stehen, um den Rand der Weiden mit dem Glas abzusuchen.
»Rasch.« Hayden lief voraus und versuchte, so leise wie möglich zu sein.
Gerade kletterten sie über eine kleine Steinmauer, als ein Ruf die Stille des Abends durchbrach. Ein französischer Soldat löste sich aus der Hecke in südlicher Richtung und zeigte aufgeregt auf die Engländer.
»So ein Pech!«, entfuhr es Hawthorne.
»Diesmal werden sie sich wohl kaum bluffen lassen«, sagte Hayden zu dem Leutnant der Seesoldaten. Hawthorne nickte, wusste er doch sofort, was Hayden meinte. Mit seinem schlechten Französisch würde er sich verraten.
Daher rannten sie, so schnell sie nur konnten. Als Hayden zurückschaute, sah er, wie ein französischer Soldat die Muskete anlegte. Der dumpfe Schuss zerriss die Stille, aber die Kugel verfehlte ihr Ziel. Die drei Männer rannten noch schneller, als weitere Rufe über die Wiesen schallten. Hayden griff im Laufen in die Tasche, die er sich über die Schulter gehängt hatte, und holte die Pistole hervor. Er fragte sich, wie lange er diese Geschwindigkeit beibehalten könnte. Denn das Leben an Bord bereitete einen Seemann nicht gerade auf einen Spurt an Land vor, und zu allem Unglück spürte Hayden, dass die Wunde an seiner Brust wieder aufgegangen war. Sie brannte wie nach einem Peitschenhieb.
Noch mehr Schüsse wurden abgefeuert, und als die Flüchtenden endlich eine schützende Hecke erreichten, tauchte keine zehn Schritte entfernt ein Soldat zwischen den Bäumen auf. Hayden erschoss den Mann, ehe der seine Muskete anlegen konnte. Doch da kamen noch drei weitere Bewaffnete. Inzwischen hatten auch Hawthorne und Wickham ihre Pistolen gezogen und schalteten je einen Gegner aus, während Hayden den letzten verdutzten Soldaten mit dem Griff seiner Pistole zu Boden streckte. Völlig außer Atem schaute er sich nach den Gefährten um und
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