Unter Korsaren verschollen
ist ein schö-
nes Verhalten von Seiten des Silunen, der, wenn seine Erzählung stimmt, in diesem Fall ja der Beleidigte ist.
Die beiden Kabylenführer kehren zu ihren Leuten zu-rück, denen sie das Ergebnis der langen Unterredung mitteilen.
»Was war denn los, Pierre-Charles?« fragt Parvisi, als die Kabylen außer Hörweite sind. »Läßt man uns ungehindert Weiterreisen?«
Mit kurzen Worten klärt ihn der Franzose auf. Luigi ist überrascht über die Stellung, die Pierre-Charles bei diesen Bergvölkern einnimmt.
»Wenn ich richtig verstanden habe, so ist die Anaia so etwas wie ein Schutzbrief, der überall geachtet wird.
Deshalb hat man dich derartig bevorzugt, fast ehr-furchtsvoll behandelt. Das ist eine große Sache.«
»Ja, die Anaia ist das Höchste, was diese Leute besitzen. Sie wird mündlich ausgesprochen, nicht schriftlich niedergelegt, im Grunde genommen ist es aber ein Schutzbrief. Die Silunen würden keinen Augenblick zögern, obwohl dieser Dorfvorsteher und seine Freunde mich noch nicht gesehen haben, ihr Leben hinzugeben, wenn sie meins damit erhalten könnten. Und das gleiche würden die Tulhah tun. Der Berber ist sehr stolz, sich seines Wertes durchaus bewußt. Er will, daß das von ihm gesprochene Wort von jedem geachtet wird, wie er na-türlich auch bereit ist, das eines anderen zu achten.
Kommt ein Fremder schutzflehend an den Herd eines Kabylen, so sieht es der Angesprochene als höchste Ehre an, dem Bedrohten die Anaia, seinen Schutz, zuteil werden zu lassen. Der Kabyle wird dann für den Mann kämpfen, auch wenn es sieb
nachträglich herausstellen sollte, daß er einen Verbrecher, vielleicht gar einen Mörder schützt. Er würde selbst ehrlos, und damit unmöglich im Dorf oder Stamm, rückte er jetzt von dem Beschützten ab.«
De Vermont tritt an den Rand des Pfads und blickt suchend in die Schlucht hinab.
»Du willst, Pierre-Charles? Bei diesem Wetter!«
»Natürlich, Luigi. Nur, ich fürchte, man wird es mir nicht gestatten. Es ist nicht ganz gefahrlos, zugegeben; aber wenn man nicht von herabstürzenden Steinen getroffen und erschlagen wird, ist’s doch nichts als ein Kinderspiel. Zwei kräftige Männer genügen, um mich am Seil zu sichern.«
Wirklich weigern sich die Führer dann auch, El-Fransi hinuntersteigen zu lassen. Sie fürchten um sein Leben.
Da handelt der Franzose, der seine Abenteuerlust Selim und Parvisi gegenüber mit der Bemerkung zu beschwichtigen sucht, daß es seine Pflicht als Gastfreund der Kabylen verlange, zu helfen, eben auf eigene Faust.
Stricke und Riemen sind bei den Leuten genug vorhanden, so läßt er sich, während die Silunen und Tulhah eigene Unternehmen starten, von den Freunden abseilen.
Selim liegt vorn am Rande des Abgrundes; Parvisi steht etwas zurück, schräg mit dem Rücken zur Felswand. So braucht er nicht in die grausige Tiefe hinabzublicken. Er ist nicht ganz schwindelfrei.
Der Zug im Seil läßt nach. Pierre-Charles scheint am Ziel angelangt zu sein. Der Italiener atmet erleichtert auf. Einen Augenblick später droht ihm aber der der Sicherheit halber zweifach um den Arm geschlungene Strick das Fleisch zu zerschneiden.
»El-Fransi!« schreit Parvisi auf. In der Aufregung denkt er gar nicht daran, daß, wäre ein Unglück geschehen, der Riemen doch locker und nicht so zum Bersten angespannt in seinen Händen liegen müßte.
»Festhalten!« brüllt Selim. Vorsichtig, langsam, Zentimeter um Zentimeter, schiebt der Neger den Kopf über den Abgrund. Weit unten, vielleicht nur wenige Meter über der Sohle der Schlucht, genau können es auch die Augen des Schwarzen nicht erkennen, wirbelt wie ein Kreisel, frei am Seil hängend, de Vermont.
»Nachlassen, weiter wie bisher. Es ist nichts!« weist der Neger Luigi an.
So gelingt es El-Fransi, den Tulhah zu retten.
»Allahs Wege sind wunderbar«, murmeln die Kabylen später. Der Verunglückte war zwar schwer verwundet, aber ernstliche Gefahr für sein
Leben bestand nicht. Als er das Bewußtsein zurücker-langt hatte, wieder zu sprechen vermochte, erfuhr man, daß es wirklich nur ein Unfall, kein Verbrechen gewesen war.
El-Fransis Rat hatte ein unsinniges Blutvergießen verhütet. Daß der Jäger dadurch in der Achtung der Söhne der Berge noch mehr stieg, liegt klar auf der Hand. -
Nicht minder grauenerregend ist die Rhummelschlucht, durch die die Freunde jetzt ziehen. Es ist, als ob die gewaltigen Steilwände einzustürzen drohen. Zur Linken haben Menschen eine Stadt auf den Felsen
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