Unter Trümmern
Hand gedrückt hatte. Wie sie erleichtert durch die Nacht nach Hause gegangen war, den leeren Topf in den Händen, die Stille in ihrer Straße, keine Schmerzensschreie von Rolf und … das baumelnde Bein. Im Keller. Sie musste sich setzen. Das war jetzt zu viel. Sie sah wieder Peter vor sich, wie er sie fassungslos ansah, als sie ihm das Messer in den Rücken gestoßen hatte. Ihr schauderte vor ihr selbst und ein Gefühl von Ekel stieg in ihr hoch, als sie an seine Berührungen dachte, als er sie um die Hüften fasste und sie an sich ziehen wollte. Da hatte alles angefangen und es war von Woche zu Woche, von Monat zu Monat schlimmer geworden. Und jetzt war sie in diesem Haus, um wieder ein Verbrechen zu begehen. Wie verkommen war sie geworden, wie gewissenlos? Der Himmel würde ihr für immer verschlossen bleiben, dessen war sie sich in diesem Moment sicher.
Eben, als dieser Jean-Luc bei ihr war, war sie weit fort gewesen und hatte für ein paar Momente vergessen, warum sie in diesem Haus war und warum sie die Lewwerknepp zubereitete. Welchen Auftrag sie hatte und in welcher Zwickmühle sie sich befand. Hatte überlegt, was sie machen sollte. Ob sie Brunners Auftrag ausführen sollte. Den letzten Abend, die letzte Nacht und auch den Vormittag hatte sie darüber gegrübelt. Sie war in der Messe in St. Stephan gewesen und hatte gehofft, Franzi dort zu treffen. Franzi, das wusste sie, würde sofort merken, wenn etwas mit ihr nicht stimmte, und sie würde sicher so lange auf sie einreden, bis sie ihr erzählte, was sie bewegte. Aber Franzi war nicht da. Sie war, wie sie von einer Bekannten erfuhr nach Ingelheim, zu einer Tante gefahren, die erkrankt war. Längeren Gesprächen mit den anderen Frauen aus dem Ort war sie ausgewichen.
Aber das viele Nachdenken hatte keine Lösung gebracht und schließlich war sie zu Jarrés’ Haus aufgebrochen. Sie machte einen Umweg, um niemandem zu begegnen, um keine Fragen beantworten zu müssen.
Dorle begann das Gemüse für die Brühe zu schneiden. Als das Wasser zu sprudeln begann, reduzierte sie die Hitze, gab die Knochen hinzu, zerkleinerte das Gemüse noch mehr und warf es ebenfalls in den Topf. Mit den Knepp konnte sie sich Zeit lassen.
Sie reinigte die Platte, schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit. Sie konnte Jean-Luc weder sehen noch hören, im Haus war es weiterhin still. Brunner hatte ihr erklärt, wo sich Jarrés Büro befand. Den Schlüssel zu dem Zimmer schob der Capitaine, wenn er das Haus verließ, in die oberste Schublade einer Kommode, die im Flur stand. Brunner hatte das offenbar schon mehrmals beobachtet, wenn er Gast bei dem französischen Offizier war.
Dorle war sehr aufgeregt, als sie aus der Küche hinausging. Sie durchquerte den großen Flur, von dem eine breite Holztreppe, die mit einem dicken Teppich ausgelegt war, in den ersten Stock hinaufführte. An den Wänden hingen Bilder. Französische Generäle, de Gaulle, Koenig, Leclerc. Links ging es in den großen Raum, wo die Jarrés’ für gewöhnlich aßen und ihre Gäste empfingen. Rechts knickte ein schmalerer, holzgetäfelter Gang vom Flur ab. In diesem Teil des Hauses war sie noch nie gewesen. Vorsichtig schaute sie um die Ecke. Am Ende des Ganges, vor der Tür, hinter der sich das Arbeitszimmer des Capitaines befand, saß Jean-Luc in einem großen, sehr komfortabel wirkenden Sessel und schien zu schlafen.
Er war tief in den Sessel gerutscht, sein Kopf hing nach hinten und sein Mund stand offen. Nicht weit von ihm stand die Kommode. Dorle trat in den Gang, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen.
Plötzlich fuhr Jean-Luc auf, richtete sich in seinem Sessel auf, sah sich verwirrt um und erkannte Dorle.
Die war zusammengezuckt.
„Madame?“, fragte der Soldat streng.
Dorle wollte in ihrer Aufregung schon auf Französisch antworten, verkniff es sich im letzten Augenblick und brachte ein „Tee?“ hervor.
Jean-Lucs Gesichtszüge entspannten sich. „Oui, merci! Du thé“, sagte er und streckte sich.
Dorle eilte in die Küche zurück, wo sie Wasser in einen kleinen Topf füllte und neben den großen Topf mit der Fleischbrühe auf den Herd stellte. Aus einem der Schränke nahm sie eine Tasse und den Tee und wartete, dass das Wasser kochte. Sie hoffte, dass der Unteroffizier in seinem Sessel sitzen blieb. Mit einem Griff vergewisserte sie sich, dass das Röhrchen in ihrer Tasche war.
Endlich stiegen die ersten Bläschen vom Boden an die
Weitere Kostenlose Bücher