Unter Trümmern
war ein großes Durcheinander. War es Zufall, dass dieser Polizist genau in dem Augenblick kam, als sie in dem Geschäft war? Hatte sie seinen Blick falsch gedeutet? War er extra mit ihr zusammengestoßen und zu Boden gefallen? War es gar nicht der an der Frau interessierte Blick des Mannes, sondern der durchdringende, die Wahrheit suchende des Kommissars? Der sie prüfen wollte? Und dann war da noch ihre Lüge wegen Rolf. Sie wunderte sich über sich selbst, wie leicht ihr die Lüge gefallen war. Du sollst nicht lügen! Wieder hatte sie gegen ein Gebot verstoßen. War sie jetzt völlig vom Glauben abgefallen? Oder hatte der Herr sie fallen lassen, meinte er sie schon an den Teufel verloren zu haben?
Erst als Dorle sich einige Straßenzüge von der Bäckerei entfernt hatte, öffnete sie ihren Schirm, um sich vor dem Regen zu schützen. Nun ging sie langsamer und trottete durch die Straßen. Sie wagte nicht nach Hause zu gehen. Vielleicht stand dieser Polizist schon vor ihrer Tür und wartete auf sie. Sie könnte jetzt bei Franzi vorbeigehen. Franzi wäre sofort gekommen, wenn sie erfahren hätte, dass ihre Freundin Dorle krank ist. Aber Franzi hatte noch eine Familie, zwei Söhne, die sich um sie kümmerten. Und Franzi würde Fragen stellen. Und Franzi konnte sie nicht belügen.
Lange, es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, lief sie umher, bis sie so müde war, dass es ihr gleichgültig wurde, ob der Polizist vor ihrer Tür wartete. Mit schlurfenden Schritten, das Brot unter den Arm geklemmt, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Haus. Kurz bevor sie es erreicht hatte, sah sie Neubert. Es war zu spät, um dem Mann auszuweichen.
„Ist so ruhig bei dir, die letzten Tage“, bemerkte der untersetzte Mann süffisant ohne Gruß. Er hat nie Hunger gelitten, hatte Dorle schon oft überlegt.
„Rolf schreit nicht mehr?“
„Es geht ihm besser“, entgegnete Dorle knapp und wollte an dem Mann vorbeihuschen, aber der stellte sich ihr geschickt in den Weg.
„Hast du Medizin bekommen?“, fragte er und sah sie streng an. „Getauscht?“
Dorle verneinte mit einer Kopfbewegung. Zu schnell.
„Nein? Oder ein bisschen gehurt? Mit den Besatzern? So einem Franzmann in Uniform? Sind ja charmant. Kann so einem hübschen deutschen Mädel schon den Kopf verdrehen.“
Dorle wollte das nicht hören, wollte nicht den geifernden Worten dieses alten Mannes ausgesetzt sein. Sie drehte sich um und lief in die andere Richtung davon, weg von ihrem Haus.
„Ich zahle auch gut, Dorle. Sehr gut“, rief er ihr nach. Er lachte so laut, dass sie es noch hörte, als sie schon um die nächste Straßenecke gelaufen war.
Sie konnte jetzt nicht nach Hause. Trotz der Müdigkeit lief sie zu den Feldern. Sie wollte niemandem begegnen. Mindestens eine Stunde war sie unterwegs, bis die Kälte durch ihre viel zu dünnen Kleider jede Faser ihres Körpers ergriffen hatte. Mit gesenktem Kopf lief sie zurück durch die Gonsenheimer Straßen. Wenn ihr jemand begegnete, grüßte sie mit einem verhaltenen Kopfnicken und eilte weiter. Sie wollte mit niemandem sprechen. Von Neubert war zum Glück nichts mehr zu sehen. Hastig öffnete sie das Tor zu ihrem Hof und verschloss es sogleich wieder.
Dorle blieb weiter zu Hause und verließ es nur, wenn es nicht anders ging. Wenn sie Bekannte traf, erzählte sie ihnen, dass es Rolf nicht gut ginge und sie keine Zeit habe, da sie ihn nicht lange alleine lassen dürfe. Sie erkundigte sich nach Franzi, die noch immer hohes Fieber hatte und ihre Wohnung nicht verlassen konnte. In die Kirche ging sie nicht. Sie fürchtete zwar das Gerede der anderen, aber sie wagte nicht, ihrem Herrgott unter die Augen zu treten.
Die meiste Zeit saß sie in der Küche, starrte die Wand an oder hockte im Keller neben Rolf, betete und machte sich Vorwürfe.
Die wenigen Vorräte, die sie noch besaß, waren fast zur Neige gegangen, aber das machte ihr nichts. Sie verspürte keinen Hunger. Manchmal überlegte sie, was mit Rolfs Körper passieren würde, wenn der Frühling kam und die Temperatur anstiege. Noch sorgte die eisige Kälte draußen und im Keller dafür, dass er wie in einem Kühlhaus vor der Verwesung gesichert war. Lange würde das nicht mehr sein. Der Frühling würde kommen.
Sie würde Rolfs Tod melden müssen, aber sie fürchtete sich vor den Fragen, die man ihr unausweichlich stellen würde. Viel zu lange schon lag er tot im Keller. In den Tagen nach dem Besuch bei der Bäckersfrau war sie bei jedem Geräusch
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