Unterm Messer
Denken, Fühlen, Wahrnehmen auch motorische Fähigkeiten versagen“, erklärt mir der Chef der Neurologie.
Eine dünne Pflegerin um die fünfzig wartet bereits vor einer glatten weißen Tür. Sie sperrt auf, wir sind offenbar in einer Art Besuchsraum. Ein Tisch, vier Sessel. Großes geschlossenes Fenster. Gummizelle scheint das jedenfalls keine zu sein. Schwester Gabriela wirkt zerbrechlich, sie steht am Fenster, den Blick Richtung Himmel. Sie betet leise. Karls Studienfreund und die Pflegerin gehen. Sollte irgendetwas sein, sie warte draußen, lässt uns die Pflegerin noch wissen. Was sollte sein? Schwester Gabriela scheint uns gar nicht wahrzunehmen. Vielleicht hatte sie bloß einen hellen Moment, als der Gerichtsmediziner bei ihr war. Vielleicht hat Gott ihr in der Zwischenzeit gesagt, dass sie mir auf keinen Fall etwas erzählen soll. Ich gehe langsam auf die alte Klosterfrau zu.
„Ich bin’s, Schwester Gabriela.“ Keine Reaktion.
„Vielleicht solltest du gehen“, sage ich zu Karl Simatschek.
„Glaub ich weniger“, murmelt er.
„Sie sollen gehen“, tönt es auf einmal ganz klar. Ich kann gar nicht glauben, dass das von der Nonne gekommen ist. Auch Karl starrt in ihre Richtung.
„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder ...“ Das Beten hat übergangslos wieder eingesetzt.
„Also?“, sage ich.
Der Gerichtsmediziner schüttelt den Kopf, trabt aber trotzdem brav Richtung Ausgang. „Ich warte draußen. Bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“
Schwester Gabriela geht mit sicheren Schritten zum Tisch, setzt sich. Den Rosenkranz hat sie mit einer raschen Bewegung in die Tasche ihres dunkelblauen Habits gesteckt. Ich setze mich ihr vis-à-vis.
„Beten ist ein wunderbarer Schutz. Vor allem wenn man nicht weiß, was man machen soll“, erklärt mir die Nonne dann. „Ich will nicht gestehen, was ich nicht getan habe. Ich will aber auch nicht das nächste Opfer sein. Ich gebe zu, ich lebe immer noch gerne. Ich bin zu feige, um auf eigene Faust nachzuforschen. Und wohl auch schon zu schwach.“
„Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie Medizinerin sind?“, frage ich die Nonne.
Sie sieht mich verblüfft an. „Ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass das wichtig ist.“
„Und warum wollten Sie mit mir und nicht mit der Polizei sprechen?“
„Sie haben ja gesehen, was dieser Polizeidirektor für ein Mensch ist. Und die anderen stehen hierarchisch unter ihm. Die Polizei war immer militärisch aufgebaut, das Gehorsamsprinzip ist da ganz wichtig. Und was solche Prinzipien angeht, bin ich Expertin, das können Sie mir glauben. Jesus war ein Basisdemokrat, aber seine angeblichen Nachfolger und ihre Freunde ... Na ja, lassen wir das. Der werfe den ersten Stein, der selbst ohne Schuld ... Das muss ich mir immer wieder sagen. Selbstgerechtigkeit ist die größte aller Sünden, davon bin ich überzeugt.“
„Und ... gibt es etwas, durch das Sie im Zusammenhang mit den beiden Toten ... Schuld auf sich geladen haben?“
Die Nonne blickt sich vorsichtig um. Beinahe glaube ich, dass sie gleich wieder den Rosenkranz herausholen und weiterbeten wird. Aber dann flüstert sie: „Ich fürchte, ich habe Schwester Cordula nicht ernst genug genommen.“ Sie sieht zum Fenster hinaus, scheint weit weg zu sein. Was haben die Messungen ihrer Hirnströme ergeben? Oder hat vielleicht langes Beten diesen Effekt? Nennt man das in anderen Religionen nicht das Streben nach dem Nichts?
„Am Abend bevor sie verschwunden ist, ist Schwester Cordula zu mir gekommen und hat mir erzählt, dass sie sich womöglich in einem ,lieben Menschen getäuscht' hat.“
„Sie haben sie gefragt, wer dieser ,liebe Mensch' sei?“
„Natürlich. Aber sie wollte es mir nicht sagen. Sie wollte noch ein wenig darüber nachdenken. Sie war ein wenig husch-husch, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sehr freundlich, sehr gläubig, aber ziemlich weit weg von der realen Welt. Obwohl sie die Jüngste von uns war. Ich habe das ohnehin schon einige Male festgestellt: Wir Alten sind die Realistischeren.“
„Was hat Schwester Cordula gemacht, bevor sie damit zu Ihnen gekommen ist?“
„Sie war drüben in der ,Beauty Oasis'. Sie ist bei der Klostertür hereingekommen und gleich in mein Büro. Sie hat etwas von der Ringelblumencreme gesagt und dass da etwas drin war, das nicht hineingehöre. Sie war im Labor, das weiß ich. Sie wollte den Lavendelextrakt analysieren und nachsehen, warum sich unsere Ringelblumencreme manchmal
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