Unterm Messer
viermal, fünfmal. Dann eine verschlafene Stimme: ,,Is’ was passiert?“
„Sie ... du schläfst schon?“, frage ich einigermaßen irritiert.
„Es is’ bald halb fünf. Ja.“
„Daheim?“
„Warum?“, fragt er. „Ja, klar. — Da ist doch die Mira, oder?“ „Hm. Ja. Danke. Alles okay, sorry. Schlaf gut.“
Wobei „alles okay“ übertrieben ist, mächtig sogar. Da war einer vor dem Haus. Und es war nicht der Gerichtsmediziner Simatschek.
Ich sehe, dass der Himmel heller wird. Ich muss nachdenken. Dabei kann ich genauso gut Auto fahren. Ich nehme die Straße Richtung Ilz und biege wenig später auf die Autobahn Richtung Wien.
[ 5. ]
Ich weiß nicht mehr genau, wie ich heimgekommen bin. Jedenfalls hatte der Frühverkehr auf der Wiener Südosttangente schon eingesetzt. Ich habe den Wagen in der Tiefgarage geparkt, bin mit dem Lift nach oben gefahren. Wie beruhigend, dieser Lift führt genau dorthin, wo er hinführen soll. Keine Geheimzimmer, keine gesperrten Stockwerke. Gismo hat mich maunzend empfangen. Ich bin mir ganz sicher, dass Oskar sie ausführlich gefüttert hat. Na gut, das war gestern Abend, meine Alte, ich versteh dich ja. Ich streichle ihr buschiges Fell, der orangerote Streifen auf ihrer Brust leuchtet. Fünfzehn Jahre ist Gismo jetzt schon. Merkt man ihr nicht an, das sagen alle, die sie sehen. Die Nonne ist gegen achtzig. Ich öffne eines der besonders feinen Belohnungsbeutelchen und drücke den Inhalt in den Fressnapf. Gismo schnurrt, ihr Schwanz ist steil nach oben gerichtet, die Schwanzspitze vibriert. Wirkt, als könnte sie damit leben, wenn jemand zeitig in der Früh heimkommt und sie nicht so lange wie sonst auf ihr Frühstück warten muss. Ich bin völlig überdreht, schenke mir einen großen Jameson ein, gebe den wichtigen Tropfen Wasser dazu, öffne die Schiebetür und setze mich mit dem Whiskey auf die Terrasse. Morgensonne. Wieder wird es ein warmer Tag werden. Ich mag diese Tage im August. Wer hat vor dem Weingartenhaus auf mich gewartet? Wie kann es sein, dass ein Platz innerhalb von Stunden von einem freundlichen Ort, den man gar nicht verlassen möchte, zu einem bedrohlichen wird? In diesen Stunden ist viel geschehen. Die Mäuse in den seltsamen durchsichtigen Kunststoffbehältern. Das offenbar geheime Labor. Der Operationssaal im Keller. Passt gut mit dem zusammen, was die Lateinamerikaner gesagt haben: Die Operation müsse durchgeführt werden. Vielleicht hätte Schwester Cordula assistieren sollen. Nein, das ist wenig wahrscheinlich. Eine Hand auf meiner Schulter. Ich schreie auf.
„Mira, was ist?“, murmelt Oskar verschlafen. „Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich bin mit zwei Schulfreunden versackt, es war ein Zufall, ich wollte dich nicht mehr wecken. Aber deswegen hättest du doch nicht mitten in der Nacht heimfahren ...“ Er scheint sich an etwas zu erinnern. Er stockt. „Du hast etwas geschrieben von einer toten Nonne in der Schönheitsklinik.“ „Hast du gestern keine Nachrichten gehört?“, murmle ich, mit einem Mal unglaublich müde.
„Ich war den ganzen Tag am Gericht. Und beim Hinausgehen habe ich Michael getroffen, er ist Anwalt in Bozen, wir haben uns ewig nicht gesehen, er hatte sich mit einem anderen Schulfreund, mit Herwig, verabredet, und ich bin mit. — Was ist mit der Nonne?“ „Da gibt es mehrere. Aber jetzt bin ich da“, sage ich und fühle mich endlich wieder restlos geborgen.
„Ich bring dich ins Bett“, murmelt Oskar an meinem Ohr. Und Oskar, der Gute, der Starke, hakt sich bei mir ein und trägt mich mehr ins Schlafzimmer, als dass er mich führt. Ich fühle undeutlich, dass ich ausgezogen werde, ich kichere. Die Nonne war keine Jungfrau, sondern Biologin. Dann spüre ich eine weiche Decke über mir und tauche ab.
Ich höre weit entfernt einen Klingelton, kann ihn zuerst nicht zuordnen. Ich habe geschlafen, traumlos. Zum Glück. — Oder nein, ich war doch gerade in einem kilometertiefen Schacht. War da nicht auch eine Nonne? Sie ist den Schacht hinaufgeschwebt und hat mir zugeraunt, dass ich bloß glauben müsse, glauben, dann könne auch ich schweben, dann käme auch ich nach oben. Klingelton. Doch, es ist der Klingelton meines Telefons. Aber warum so weit weg? Ich klappe die Augen auf. Das war schon wieder ein Traum, in dem Nonnen vorgekommen sind. Sollte nicht zur Gewohnheit werden. Das Telefon liegt üblicherweise neben dem Bett. Da ist es nicht. Oskar ist auch nicht da. Kein Wunder, ich bin
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