Untitled
Gespenster sehen! Sie schaute zärtlich zu dem Bild des Verstorbenen auf, und ihr war, als spüre er ihren tiefempfundenen Dank. Sie würde ihm nie vergessen, daß er sie stets und in jeder Hinsicht gut beraten hatte. Eifrig suchte sie als Ergänzung ihre perlgraue Spitzenbluse hervor und zog beides an. Zufrieden lächelte sie ihrem Spiegelbild entgegen. Was die Accessoires betraf, so wollte sie diese erst am Abend selbst auswählen. Konkrete Vorstellungen hatte sie bereits. Die Vorfreude auf die gewißlich nicht ausbleibenden Komplimente der beiden Herren ließ sie jetzt schon leicht erröten. Sie nahm sich vor, alles so gelassen hinzunehmen wie nur irgend möglich.
Tief versunken in ihre Betrachtungen bemerkte Madame erst jetzt, daß jemand an der Haustür Sturm läutete. Rasch lief sie in die Diele und öffnete die Tür. Unvermittelt stand sie in ihrer festlichen Kleidung Hochwürdens Haushälterin gegenüber.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung. Hochwürden schickt mich. Er hat vermutlich sein Gebetbuch bei Ihnen vergessen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich bei Ihnen mal umschaue?" Tranis Stimme hatte ihre altvertraute Lahmheit wiedergewonnen.
Madame machte eine einladende Handbewegung. „Bitte, treten Sie näher. Gestern habe ich zwar aufgeräumt und geputzt, aber Hochwürdens Gebetbuch ist mir dabei nicht in die Hände gefallen."
„Ach nein?" Trani schaute sich neugierig im Salon um. Den Papierkorb, der halb verdeckt neben dem zierlichen Biedermeiersekretär stand, hatte sie sogleich erspäht. Zielstrebig steuerte sie auf ihn zu. Gerade wollte sie ihn ungeniert durchwühlen, als die empörte Stimme der alten Dame sie in ihrem Vorhaben innehalten ließ.
„Wo denken Sie hin? Glauben Sie, Gebetbücher landen bei mir im Papierkorb?"
„Soll alles schon vorgekommen sein", stotterte Trani sehr verlegen, was die alte Dame noch wütender werden ließ. Die Hausangestellte hatte jedoch bereits das Corpus delicti entdeckt. Auch hier war also einer dieser gespenstischen Briefe eingetroffen. Der lila Briefumschlag mit der Grafenkrone war achtlos weggeworfen worden. Wenn sie nur den Briefinhalt in Erfahrung bringen könnte! Doch hinter dieses Geheimnis zu kommen, schien momentan aussichtslos zu sein.
Als suche sie immer noch nach dem angeblich vermißten Gebetbuch, schaute Trani flüchtig in andere Ecken und unter das Kanapee. Sie wollte auf keinen Fall noch mehr Verdacht erregen. Der kleinen Dame war das Verhalten der Besucherin jedoch schon lange nicht mehr geheuer. Mißtrauisch beobachtete sie jede ihrer Bewegungen.
„Sagen Sie", flötete sie eine Spur zu süß, „wie kommt es eigentlich, daß Hochwürden erst jetzt sein Gebetbuch vermißt? Er hatte doch an den letzten beiden Tagen Messen zu lesen? Dafür benötigt er es doch. Ich glaube kaum, daß er den Inhalt des Buches auswendig hersagen kann, wobei ich ihm keinesfalls zu nahe treten möchte!"
Trani versuchte sich in eine lapidare Erklärung zu flüchten: „Hochwürden kann eben alles!"
„Es ehrt Sie durchaus, mein Kind, so von Ihrem Pfarrer zu sprechen", erwiderte die kleine Dame und schaute die Haushälterin durchdringend an. Trani wurde immer verlegener. Erst nach Tagen nach einem angeblich verlorenen Gebetbuch eines Priesters zu suchen und noch dazu bei einer sehr gläubigen Katholikin, schien plötzlich keine so intelligente Idee gewesen zu sein. Madame mußte ja Verdacht schöpfen.
Schnellstens begab sich Trani auf den Rückweg, begleitet von Madames strafenden Blicken. „Glauben Sie nicht auch, daß diese Sache mehr als faul ist?"
„Irgend etwas stimmt hier wirklich nicht", nagte es in ihr, während sie die Tür schloß. „Ich sollte Hochwürden nach dem angeblichen Verlust seines Gebetbuches fragen."
Hätte sie es nur gleich getan! Vielleicht wären dann die „drei" den „fünfen" auf die Schliche gekommen.
So jedoch blieb es nur bei dem Vorsatz. Wie aber auch sollte sie von dem wenig ehrenwerten Vorhaben ihrer Freundinnen etwas ahnen, ihr auf so unfeine Art und Weise nachzuspionieren!
VIII.
Wie ein Dieb in der Nacht schlich sich der gute Doktor an diesem Abend aus seinem Haus. Seine Schwester hatte er seit dem unschönen Disput nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es wäre denkbar unpassend, sollte sie ihm gerade jetzt über den Weg laufen. Er war nicht gewillt, irgendwelche Rechtfertigungen abzugeben, die letzten Endes sowieso nicht den Tatsachen entsprachen. Er
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