Untot mit Biss
Zeit verblassen.« Ich schüttelte den Kopf und zitterte in seinen Armen, und er zog mich noch näher. So fest schlang ich die Arme um ihn, dass es ihm wehgetan hätte, wäre er ein Mensch gewesen. »Diesmal war es anders. Ich habe eine Frau gesehen. Sie wurde gefoltert und lebendig verbrannt, und ich konnte nicht … Ich stand einfach nur da …« Ich biss mir auf die Lippe, um zu verhindern, dass meine Zähne klapperten. Es hätte mich an die eisige Kälte erinnert, und die einzige Wärmequelle. Ich wollte nicht daran denken. Und wenn ich nicht daran dachte, verschwanden die Bilder vielleicht. Doch noch während ich mich an der Hoffnung festklammerte, die Rafes Worte vermittelten, wurde mir klar, dass es nicht so einfach sein würde.
In meinem Leben hatte ich Tausende von Visionen gehabt, manche von der Vergangenheit, andere von der Zukunft, und keine von ihnen war sehr angenehm gewesen. Ich hatte alle Arten von schrecklichen Dingen
gesehen,
doch nie beeinflussten sie mich auf diese Weise. Im Lauf der Zeit und mit mehr Übung hatte ich gelernt loszulassen, was ich
sah,
und es so zu behandeln wie andere Leute beunruhigende Nachrichten im Fernsehen, wie etwas, das in der Ferne geschah und nicht ganz real war. Andererseits war ich bisher auch nie Teil der Geschehnisse gewesen und hatte nie im Körper einer unmittelbar an den Ereignissen beteiligten Person gesteckt. Der Unterschied glich dem, ob man an einem schrecklichen Verkehrsunfall lediglich vorbeifuhr oder darin verwickelt war. Den Blick dieser Frau würde ich so schnell nicht vergessen.
»Mon Dieu,
du hast Françoise gesehen?« Louis-César trat bestürzt auf uns zu, und ich wich zurück.
»Rühren Sie mich nicht an!« Vorher hatte er vage nach einem teuren Duftwasser gerochen, und jetzt haftete ihm der Gestank vom brennenden Fleisch der Frau an. Ich wollte nicht nur, dass er mich nicht anrührte – ich wollte ihn nicht einmal im gleichen Zimmer.
Er trat zurück, und die Falten fraßen sich tiefer in seine Stirn. »Mein aufrichtiges Bedauern,
Mademoiselle.
Ich hätte mir auf keinen Fall gewünscht, dass Sie Zeuge davon werden, um nichts in der Welt.«
Rafe sah ihn über meinen Kopf hinweg an. »Sind Sie jetzt zufrieden,
Signor?
Ich habe Ihnen gesagt, dass wir noch nicht die Tränen benutzen sollten – wenn sie aufgeregt oder krank ist, werden die Visionen sehr unangenehm. Aber niemand hört auf mich. Jetzt verstehen Sie vielleicht.« Er zögerte, als Mircea neben mir erschien und ihm ein kurzes Kristallglas reichte.
»Lass sie dies trinken«, sagte er im Befehlston, und Rafe gehorchte sofort. »Ich habe die Tränen gar nicht benutzt«, wandte Louis-César ein. »Ich habe sie nicht einmal dabei.«
Rafe schenkte ihm keine Beachtung. »Trink das,
mia Stella.
Es wird dir guttun.«
Er nahm mit mir in dem großen Sessel Platz, und ich nippte an dem Whisky, bis ich wieder ruhig atmete. Das Zeug war so stark, dass es sich auf dem Weg zum Magen durch die Speiseröhre brannte, aber ich hieß das Gefühl willkommen. Mir war alles willkommen, was die Erinnerung vertrieb. Ich merkte plötzlich, dass ich die Finger tief in Rafes Kaschmirpulli gegraben hatte.
Er lächelte, als ich losließ. »Ich habe noch andere Pullis, Cassie. Es geht dir besser, und ich bin hier. Denk daran und nicht an die Dinge, die du
gesehen
hast.«
Es war ein guter Rat, aber es fiel mir schwer, ihn zu beherzigen. Wenn ich Louis-César ansah, kehrten die Bilder sofort zurück und drohten, mich zu überwältigen. Warum hatte der Senat gewollt, dass ich in dieser Nacht etwas
sah,
noch dazu so etwas? Was hatte er mit mir gemacht, damit die Vision so anders wurde?
»Ich brauche ein Bad«, verkündete ich abrupt. Es ging mir hauptsächlich darum, von Louis-César fortzukommen, aber ich konnte tatsächlich eins gebrauchen.
Mircea nahm meine Hand und führte mich zu einer dem Eingang gegenüberliegenden Tür. »Das Bad ist dort, und es sollte auch einen Bademantel enthalten. Ich lasse dir etwas zu essen bringen, während du badest, und anschließend reden wir miteinander. Wenn du etwas brauchst, zögere nicht, danach zu fragen.«
Ich nickte, reichte ihm das fast leere Glas und floh in die kühle, mit blauen Fliesen ausgestattete Oase des Badezimmers.
Die Wanne war so groß wie eine Sauna, und ich kletterte dankbar hinein, nachdem ich meine ruinierten Sachen abgelegt hatte. Ich ließ heißes Wasser hineinlaufen und lehnte mich zurück, so müde, dass ich eine ganze Minute auf die Seife starrte
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