Unwiderstehlich untot
gemacht hatte.
9
Grünes Licht aus einer der Zellen gab meinen Händen eine gespenstische, kranke Farbe. Ich drückte sie aneinander, bis sie wehtaten, während mein Blick über Dutzende von Gesichtern strich. Die Versuchung, meine Macht zu benutzen, wurde fast überwältigend stark. In irgendeinem geistigen Hinterstübchen war ich damit beschäftigt gewesen, seit ich die verbrannte, tote Landschaft gesehen hatte, die benommen umherwankenden Kriegsmagier, die leere Stelle dort, wie sich MAGIE befunden hatte. Denn Marlowe hatte unrecht – es gab eine Möglichkeit.
Ich wusste nur nicht, ob es richtig war, Gebrauch davon zu machen.
»Der Zugang des nächsten Fluchttunnels ist zehn Minuten von hier entfernt, Cassie, und dann sind es noch einmal zehn Minuten, um in Sicherheit zu gelangen«, sagte Marlowe. »Die Zeit ist nicht auf unserer Seite.«
Ich spürte den Beginn eines hysterischen Lachens in meiner Kehle und kämpfte es hinunter. »Tja, das ist die Preisfrage, nicht wahr?«
Dünne Falten bildeten sich auf Marlowes Stirn. »Cassie…«
»Ich brauche eine Minute, Marlowe.«
»Für was?«
»Das weiß ich noch nicht!«
Das war eine der Gelegenheiten, bei denen ich die fehlende Ausbildung wirklich bedauerte. Während des letzten Monats hatte ich mich mehr oder weniger daran gewöhnt, Hüterin der Zeit zu sein und den Unsinn in Ordnung zu bringen, den andere Leute anrichteten, wenn sie Gott spielten. Nicht das brachte mich nachts um den Schlaf, sondern die Vorstellung, dass ich es früher oder später mit einer Situation zu tun bekommen würde, in der ich selbst den Wunsch verspürte, den Verlauf der Ereignisse zu ändern.
Ich konnte zurückkehren und dafür sorgen, dass ich nicht da war, wenn Richardson das Dante’s betrat – dann würde alles nicht geschehen. Dann kam es nicht zur Zerstörung von MAGIE dann brauchte niemand zu sterben… Es erschien mir fast zu leicht, und genau das erschreckte mich. Ich hatte schon einmal eine kleine Sache verändert und damit fast Mircea umgebracht. Welche Auswirkungen hätte eine große Änderung? Ich wusste es nicht, und das jagte mir Angst ein.
Agnes hatte mich davor gewarnt, die Zeit zu manipulieren; angeblich schuf man damit mehr Probleme, als man löste. Aber sie hatte auch darauf hingewiesen, dass die Pythia Hellseherin war, weil sie in die Zukunft blicken und feststellen konnte, welche Auswirkungen sich durch ihr Handeln ergaben. Sie hatte mich aufgefordert, meiner Gabe zu vertrauen. Genau da lag das Problem – ich brachte kein Vertrauen für meine Gabe auf.
Mein ganzes Leben hatte sie mir immer nur schlechte Nachrichten anstatt von Tagträumen gezeigt. Einer der wenigen Vorteile, Pythia zu sein, bestand darin, dass meine Visionen nachgelassen hatten. Ich bekam sie jetzt nicht mehr alle zwei bis drei Tage. Manchmal vergingen Wochen, ohne dass so etwas geschah. Und jetzt fand ich mich plötzlich in einer Situation wieder, in der viele Leben von eben dieser verschmähten Fähigkeit abhingen.
Ich hoffte sehr, dass Agnes recht hatte. »Ich probiere etwas aus«, teilte ich Marlowe mit. »Es dauert nur eine Minute.«
»Sie hatten bereits eine Minute.«
»Dann nehme ich mir eben noch eine!«
Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren.
Deutlich konnte ich die Missbilligung spüren, die wellenförmig von Marlowe ausging, aber er schwieg. Und nach einigen Sekunden beruhigte ich mich genug, um den Versuch zu unternehmen. Allerdings wusste ich nicht genau, wie ich es anstellen sollte.
Mein ganzes Leben hatte ich mit meiner Gabe gerungen, und meistens war es mir darum gegangen, sie zu unterdrücken. Erst in jüngster Zeit hatte ich mich bemüht, damit Dinge zu sehen, und oft war es mir nicht gelungen. Jetzt verlangte ich das Unmögliche: Ich wollte nicht die tatsächliche Zukunft sehen, sondern eine Alternative. Eigentlich rechnete ich gar nicht damit, dass es klappte.
Deshalb war ich ziemlich überrascht, als es doch funktionierte.
Vorsichtig ging ich über rußschwarzen Schutt zum Eingang des Dante’s, oder was davon übrig war. Eine Linie der Zerstörung hatte die Gebäude zerschnitten und sie aufplatzen lassen. Schmutz hatte sich an den Buchstaben über dem großen Eingang angesammelt, der in eine Ruine führte.
Übrig waren nur Teile eines Turms und Reste von Zimmern, offen den Elementen ausgesetzt. Fleckige, verblasste Einrichtungsgegenstände lagen verstreut, und Gardinenfetzen bewegten sich im Wind. Alles andere war ein schwarzes Gerippe,
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