Urod - Die Quelle (German Edition)
ihr nur genauer auf den Grund ging. Denn darunter lag ein bodenloser Abgrund, der mit den menschlichen Sinnen nicht zu erfassen war. Einzig das Ausschlagen der Geigerzähler kündete von der tödlichen Gefahr, die dort geduldig lauerte.
Enza war unentschlossen, ob sie es allein in den Wald wagen sollte. Sie ging ein paar Schritte auf den Waldrand zu, hielt dann jedoch inne und sah sich nach Drago um, der stehen geblieben war und sie ungeduldig zu sich heran winkte. Enza zögerte noch einen Moment. Doch dann entschied sie, es wäre töricht, den gleichen Fehler zu machen wie Lea und alleine die Gegend zu erkunden. Solange sie nicht wussten, was hier vor sich ging, wäre es besser, Vorsicht walten zu lassen. Sie wandte sich um, stapfte Drago entgegen und wies nach rechts.
„ Was ist dahinten? Könnte sie nicht dorthin gelaufen sein?" fragte Enza.
„ Nein." Drago antwortete, noch bevor Enza ihre Frage beendet hatte. „Dahinten ist es völlig morastig. Da kommt man kaum durch. Und etwa anderthalb Kilometer von hier liegt ein See. Aber was sollte sie da?"
Irgendetwas an Dragos Stimme machte Enza stutzig.
„ Besser wir warten auf die anderen und Miles, bevor wir weiter suchen", sagte Drago und beschleunigte seine Schritte noch mehr.
Enza machte keine Anstalten, zu ihm aufzuschließen. Die Stunde war noch nicht um und sie wollte die Zeit nutzen, um zu sehen, warum Drago sie so schnell abgekanzelt hatte. Sie wartete, bis er weit genug weg war und ging dann in die Richtung, in der sie gestern das Fries gefunden hatten.
Thomas und Sebastian hatten sich für alle Fälle aus den Baracken ihre Kletterausrüstung sowie die Taschenlampen geholt und sich dann, zusammen mit Viola, auf den Weg zum Felsen gemacht. In Violas Blick spiegelte sich Furcht wider, aber auch die Entschlossenheit, diese zu besiegen und Lea zu finden, wie Thomas nach einem kurzen Seitenblick auf sie feststellen konnte. Er versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Wusste sie, was zwischen ihm und Lea vorgefallen war? Eben in der Baracke war er sich noch absolut sicher gewesen. Aber vielleicht hatte er auch nur ihre Sorge um Lea falsch interpretiert. Wie gerne hätte er mit ihr gesprochen, ihr die Situation erklärt, ihr gesagt, was ihn getrieben hat, mit Lea zu schlafen. Ihr zumindest einen Teil der Schuld weiter gegeben, an der er nun so schwer zu tragen hatte. Im Grunde hatte Viola keinen Anspruch auf seine Treue. Er war ein freier Mann. Sie hatte ihm mehr als einmal erklärt, dass sie ihre Entscheidung gefällt hatte und er musste damit leben. Wie er das tat, war seine Sache. Und dennoch, nach ihrer Beteuerung von heute Morgen konnte er das Gefühl nicht abschütteln, sie hintergangen zu haben. Es wog fast schwerer als sein schlechtes Gewissen Lea gegenüber. Sicher war er Schuld an ihrem Verschwinden. Er hatte sie verletzt, das war ihm vollkommen klar. Aber dass sie so dumm sein würde, einfach wegzulaufen, dafür konnte er ja wohl nichts. Das hätte er nicht ahnen können. Niemals. Sonst wäre er ihr gegenüber nicht so abweisend gewesen. Dann hätte er versucht, ihr zu erklären, warum es überhaupt so weit gekommen war und dass er eigentlich kein schlechter Mensch war. Keiner von den Typen, die Frauen nur für eine schnelle Nummer benutzen. Vielleicht hätte das nichts genutzt, aber wenigstens wäre ihr klar gewesen, dass er selbst nur aus einer Verletzung heraus gehandelt hatte. So wie wohl alle Menschen aus ihren Verletzungen heraus handeln, die ihnen irgendwann von irgendwem zugefügt worden waren. Und die sie dann weiter gaben - meistens an jemanden, der nichts dafür konnte, der unbeteiligt war und einfach nur zufällig greifbar.
„ Holt eure Taschenlampen raus", sagte Sebastian, als sie den Höhleneingang erreicht hatten, „und bleibt dicht hinter mir."
„ Ich weiß nicht. Glaubst du wirklich, dass Lea ganz alleine hier hereingegangen ist?" fragte Viola ungläubig.
„ Wieso nicht? Bei der muss man mit allem rechnen. Oder hättest du gedacht, dass sie diesem Koloss von Busfahrer einfach so in den Bauch boxt?" erwiderte Sebastian.
Thomas hatte das Gefühl, Lea verteidigen zu müssen. Das schien er ihr schuldig zu sein.
„ Das ist doch was anderes. Im Affekt machen wir alle Sachen, die uns nachher seltsam vorkommen. Ich glaube, ehrlich gesagt, auch nicht, dass sie da drin ist."
„ Vielleicht hatte sie Angst und wollte sich verstecken, oder Schutz vor dem Regen suchen. Was weiß ich. Kommt schon! Jetzt sind wir hier, also
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