Valley - Tal der Wächter
Svens Zeit war die Mauer höher«, entgegnete Hal kurz angebunden. »Aber das ist ja heutzutage bekanntlich nicht mehr nötig.«
»Unsere haben wir längst eingeebnet und Gärten um die Gebäude herum angelegt.«
»Was für ein Mann war Arne eigentlich?«, fragte Hal, als sie zwischen den Stallungen hindurchschlenderten. Aus dem Haupthof drangen angeregtes Stimmengewirr und der Duft von frischem Brot und Bier herüber. »In den alten Sagen spielt er nur eine unbedeutende Rolle.«
Aud wandte den Kopf. »Wie kommst du denn darauf? Er ist der Held des wichtigsten Sagenkreises!«
Hal runzelte die Stirn. »Wohl eher der Held einiger unbedeutenderer Geschichten.«
»Von wegen! Er spielt eine Hauptrolle! Wer hat denn, bitte schön, den Schatz des Troldkönigs gestohlen? Wer hat Floris Brüder getötet, und das nur mit einem Schnitzmesser bewaffnet? Und vor allem – wer hat die Stammväter am Troldfelsen zusammengerufen?«
»Was?« Hal blieb wie angewurzelt stehen. »Das war ja wohl Sven!«
Aud Ulfarstochter lachte hell auf. »Du bist ein echter Witzbold, Hal! Na ja, vielleicht stellen es eure Erzähler so dar...«
In ihrer Stimme schwang eine gewisse Herablassung mit, darum entgegnete Hal gereizt: »Wenn Arne tatsächlich so ein bedeutender Held war, wieso ist dann Svens Haus das größte im ganzen Tal?«
Die Stallungen und Svens Halle lagen hinter ihnen, sie standen jetzt am Rand des Haupthofs.Von den Masten flatterten schwarzsilberne Banner, überall drängten sich Bedienstete, reichten Servierplatten und Krüge herum und rollten volle und leere Fässer hin und her. So ein Gewühl hatte Hal hier noch nie erlebt. Aud beobachtete das Treiben einen Augenblick lang, dann wandte sie sich wieder zu Hal um. Sie lächelte, aber ihre Augen blitzten dabei leidenschaftlich und zornig. »Im Gegensatz zu dir bin ich schon weiter als drei Schritte über die Schwelle meines Zuhauses hinausgekommen. Ich kann dir verraten, dass Arnes Haus doppelt so groß ist wie das von Sven, und verglichen mit manch anderem ist wiederum Arnes Haus eher klein. Also red gefälligst nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst.«
Hal kaute auf seiner Unterlippe. Er war selbst überrascht, dass es ihm etwas ausmachte, dass sie wütend auf ihn war. »Tut mir leid«, sagte er kleinlaut. »Das war dumm von mir. Es war... nicht recht, geringschätzig von deiner Familie und ihrem Ahnen zu sprechen. Bitte denk deswegen nicht schlecht von mir.«
Er zwang sich, ihr in die Augen zu schauen, die immer noch zornig blickten, aber Hal war froh, dass jetzt auch Erheiterung darin aufblitzte, echte ausgelassene Heiterkeit. »Schon gut«, lenkte Aud ein. »Ist doch eigentlich auch schnurz. Dieses ganze Getue, wessen Haus das Wichtigste ist und war, ist im Grunde genommen blödsinnig. Das sind doch alles bloß Ammenmärchen. Ich glaube da sowieso nicht dran.«
Hal sah sie verständnislos an. »Was für Ammenmärchen?«
»Na, die über die Helden und ihre tollkühnen Abenteuer.«
»Du glaubst nicht daran?«
Sie lachte wieder. »Nö.«
»Aber wie sonst wurden dann die Trolde...«
»Ach, an die glaube ich auch nicht. Das ist doch alles bloß... o nein! Das hat mir gerade noch gefehlt.«
Vom anderen Ende des Hofes kam eine kleine Gruppe junger Männer näher, allesamt in prächtiger orangeroter Kleidung. Trotz seiner Weltfremdheit erkannte Hal sofort, dass sie aus dem Untertal stammten. Sie waren vom gleichen Schlag wie seine Mutter, mit rosigem Teint, blauen Augen und Haaren hell wie Sandstein.Trotz ihrer Jugend, sie waren höchstens fünfzehn, sechzehn Jahre alt, ließen sich doch schon ein, zwei von ihnen kurz gestutzte Bärte stehen, noch kürzer als der Bart seines Vaters. Die langen Haare waren straff zurückgekämmt und wurden am Hinterkopf von blank polierten Bronzereifen zusammengehalten. Hal fand diesen Aufzug reichlich sonderbar und unmännlich noch dazu. Ihre Kleidung war prächtig, Krägen und Ärmelaufschläge bestanden aus kostbarem Brokatstoff.
Ihr Anführer, der größte und blondeste Junge mit dem breitesten Kinn, verbeugte sich. »Aud Ulfarstochter.«
Sie neigte ebenfalls den Kopf zum Gruß. »Ragnar Hakonsson.«
»Ich hätte dich nicht hier vermutet, in Gesellschaft eines einfachen Dieners aus Svens Haus.« Seine Stimme war hoch und nasal und von einem Hal unbekannten Dialekt gefärbt. »Warum bist du nicht unten auf der Wiese? Dort wird bald getanzt.«
»Ich hatte Appetit auf Äpfel«, antwortete Aud unbekümmert. »Und was macht
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