Vampir sein ist alles
sonderbare Gefühl, gleichzeitig zu frieren und zu schwitzen.
Micah hielt meine Hand einen Moment zu lange fest und sah mir tief in die Augen, als suchte er darin die Antwort auf irgendeine Frage. Sein Blick war lauernd wie der eines Wolfes, und ich sah das Raubtier in ihm. Da ich mit einem solchen zusammen war, hätte ich an gierige Blicke gewöhnt sein müssen, aber hier lag der Fall irgendwie anders. Wenn Sebastian mich so ansah, wusste ich, dass er Lust auf Sex hatte. Micahs Verlangen hingegen wirkte feindselig und aggressiv auf mich.
Lilith gefiel die Sache überhaupt nicht. SIE ging energisch dazwischen, und unsere Hände flogen auseinander, als wären sie zwei Magnete, die mit dem gleichen Pol gegeneinandergedrückt worden waren.
Micah betrachtete seine Hand genauso überrascht wie ich meine, dann sahen wir einander verwundert an. Ich wusste nicht so recht, wie ich mich für Liliths Unhöflichkeit entschuldigen sollte oder ob ich es überhaupt wollte, denn Micah hatte mir tatsächlich ein bisschen Angst gemacht. Und nun musterte er mich schon wieder so komisch. Er machte ein Gesicht, als wäre er irgendwie enttäuscht, dann wischte er sich die Hand an der Jeans ab.
Als Nächstes sah er sich suchend im Raum um. Ich folgte seinem Blick, um herauszufinden, nach wem er Ausschau hielt, und merkte plötzlich, dass Blythe mich anstarrte. Sie stand allein neben der Tür. Als sich jedoch unsere Blicke kreuzten, schaute sie rasch fort und mischte sich unter die anderen.
„Okay“, sagte ich zu Micah. „Was läuft hier eigentlich?“
„Was meinst du?“
Bevor ich antworten konnte, räusperte sich William. „Da nun alle hier sind ..." - er sah mich streng an - „... würde ich gern anfangen. Wie ihr seht, haben wir einiges zu besprechen.“
Ich nahm mein Exemplar der Tagesordnung von der Armlehne der Couch, wo ich es zuvor abgelegt hatte. Micah griff zu seiner Kopie. Ich hatte zu Sebastian gesagt, es sei gut, wenn unsere Treffen gleich von Anfang an auch bei anderen Zirkelmitgliedern stattfanden, nicht nur bei uns, weil es die Hierarchie aufbrach. Wir wollen den anderen nicht vorschreiben, wie sie etwas zu machen haben, hatte ich erklärt, wir wollen nicht bei allem das Sagen haben; das entspricht nicht
der Wicca-Kultur.
Als ich nun die lange Liste der Tagesordnungspunkte sah, die von einem Terminplan für unsere Treffen bis zu der Frage reichte, ob wir „hüllenlos“ (sprich: nackt) praktizieren würden, bedauerte ich, jemals so etwas vorgeschlagen zu haben.
Ich sank seufzend gegen die Rückenlehne der Couch. Mir stand ein langer Abend bevor ...
Beim Zurücklehnen streifte ich Micahs Arm und spürte, wie heiß seine Haut war. Meine Wangen begannen augenblicklich zu brennen, und Lilith geriet von Neuem in Aufruhr.
Ich korrigiere: Mir stand ein langer, unangenehmer Abend bevor.
Hätte ich nicht immer wieder zu spüren bekommen, wie nah Micah mir war, wäre ich wohl während der schier endlosen Diskussion darüber eingeschlafen, ob sich der Zirkel an
Bürgerprojekten wie Pflanzaktionen am „Tag des Baumes“ beteiligen sollte. Nicht dass es mir an Interesse gemangelt hätte, aber da ich in den vergangenen Tagen zu wenig Schlaf bekommen hatte, taten der Tee, das gute Essen und das einlullende Stimmengewirr ihre Wirkung. Doch jedes Mal, wenn ich eindöste, kippte ich gegen Micahs Schulter und schreckte hoch, als hätte ich einen Stromschlag bekommen.
Irgendwann schlug William vor, eine Pause zu machen.
Ich stand auf und vertrat mir die Beine, weil ich vom langen Stillsitzen schon Krämpfe hatte. Marge ging auf Micah zu, fasste ihn am Arm und verzog sich mit ihm in eine Ecke.
Ich sah ihnen verstohlen nach. Sie schienen sich offensichtlich zu kennen, aber was waren sie für ein komisches Gespann!
Marge trug ein Poet-Shirt, eine schwarze Röhrenjeans und die schrillste Weste, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Der dunkelviolette Stoff war über und über mit fluoreszierenden geometrischen Seidenstickereien und Spiegelplättchen, Perlen und Ringen verziert. Ich hätte so etwas niemals angezogen, doch Marge war eben eine Klasse für sich. Ihre grauen Locken schienen heute besonders wuschelig zu sein, was nur unterstrich, wie verschieden sie und Micah waren. Er war groß und schlank, sie klein und dick. Mit seinem knappen Muskelshirt, den Tattoos und der verschlissenen Jeans sah er aus wie ein indianischer Rocker. Und sie war eine Hippiematrone wie aus dem Bilderbuch.
Aber sie trug diesen
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