Vampire küssen besser
in die meinen. Ich wusste, mein Blick war dunkel, bodenlos und voller Melancholie. Ich beugte mich vor, und meine Lippen streiften seinen Mund. J stöhnte auf, öffnete seine Lippen, und der Mann, der gerade noch verkündet hatte, er dächte nicht daran, mich zu berühren, küsste mich gierig und hungrig. Ich ließ meine Lippen zu seinem Kiefer wandern. Als ich seinen Hals sanft und zart mit meinen Zähnen berührte, senkte J die Lider. Ich knabberte leicht, ohne zu beißen. J versteifte sich kurz, sträubte sich jedoch nicht. Nicht dass er sich mir gänzlich unterworfen hätte, das nicht. Doch er gab sich hin, bot sich mir an. Kein menschliches Wesen kann der Verführungskunst eines Vampirs widerstehen.
In dem Augenblick trat ich zurück und stieß ein höhnisches Lachen aus. J blickte mich wie erstarrt an. Doch er besaß Mut, das musste man ihm lassen. Und nun erkannte er mit jeder Faser seines Wesens die Macht, die ich besaß.
Anschließend raffte ich mit den Klauen meine Kleidungsstücke zusammen und zwängte mich durch die Tür hinaus in die Halle mit den Aufzügen. Ein eleganter Abgang war das nicht. Einer meiner Flügel blieb an der Türangel hängen. Fluchend riss ich ihn los und war froh, dass ich dabei nicht nach hinten kippte. Ich warf die Tür hinter mir ins Schloss, wechselte in einem Ausbruch gleißenden Lichts zurück in meine menschliche Gestalt, kleidete mich in rasender Eile an und flüchtete über die Hintertreppe hinunter in die Eingangshalle. Als ich die schwere Glastür zur Straße aufstieß, war ich erschöpft. Dann bekam ich einen Schreck: Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hatte mich verwandelt, mein wahres Wesen offenbart, J aber am Leben gelassen. Ich hasste ihn. Oder nicht? Ich war verwirrt. Doch das, was geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Dennoch: Ich hatte zu viel preisgegeben.
Falls J über das, was vorgefallen war, Bericht erstattete, würde es zweifellos Folgen haben. Die Geheimdienststelle konnte mich für labil und bedrohlich halten. Falls J dort meldete, dass ich ihn um ein Haar gebissen hätte, würde man mich vermutlich mit demselben Gleichmut töten, mit dem die Gesundheitspolizei einen tollwütigen Hund erschießt. Aus praktischen Erwägungen würde man mich vielleicht noch bis nach der Beendigung meiner Mission verschonen. Falls ich bei der Operation wirklich wichtig war, konnte man mich gewiss nicht über Nacht ersetzen. Das ließe mir zumindest noch Zeit, mir meine nächsten Schritte zu überlegen. Im Moment war ich jedoch so durcheinander, dass ich zuerst einmal etwas Banales tun musste, um mich zu fassen.
Zum Einkaufen war es zu spät. Allerdings besaß ich die Adresse des Kosmetiksalons, in dem Benny ihre Tahiti-Behandlung erhalten hatte. Ich rief ein Taxi herbei. Der Fahrer stammte aus dem Fernen Osten. Er schoss los wie von allen guten Geistern verlassen, raste, überholte und telefonierte unterdessen lautstark mit seinem Handy. Er sprach das Paschtu, das bei etlichen nordafghanischen Stämmen gebräuchlich ist. Im achtzehnten Jahrhundert hatte ich Achmed, Schah Abdali von Kandahar gekannt, den Begründer des Durrani-Clans, der Indien überfallen hatte. In seiner Gerissenheit und Schläue hatte er mir eine unvergessliche Lektion erteilt. Keine schöne Erinnerung. Der Fahrer gab seinem Gesprächspartner ein paar Informationen über mich. »Du solltest die Braut sehen, die ich gerade aufgelesen habe. Soll ich der mal zeigen, was ein richtiger Mann ist?«
Träum weiter, Idiot,
dachte ich. Beim Aussteigen gab ich ihm ein Trinkgeld und revanchierte mich auf Paschtu mit: »Du stinkst wie ein Kamel, und meine Onkel würden dein kleines Geschlechtsteil wie ein Würstchen verspeisen.« Es war schön zu sehen, wie blass er wurde und sich so kopflos zurück in den Verkehr drängte, dass er gerade noch dem Zusammenstoß mit einem Bus entkam.
Ich betrat den Kosmetiksalon und hatte Glück: Eine der Kosmetikerinnen war noch frei. Eine Stunde später kam ich als neue Frau heraus. Ich war gebräunt.
Der Abend war noch jung, und ich fühlte mich wieder gut. Zum Teufel mit J, dachte ich. Gefühle für ihn zuzulassen war Schwachsinn gewesen. Ich hatte einfach seit zu langer Zeit nichts mehr mit einem Mann zu tun gehabt. Ach, was sage ich da, ich hatte seit Jahren nicht einmal mehr ein harmloses Date gehabt. Meine Einsamkeit, von meinem sexuellen Notstand ganz zu schweigen, hatte mich verletzlich gemacht. Ich brauchte netten, unverbindlichen Sex. Danach würde
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