Venetia und der Wuestling
unmöglich machten, der Tante auch nur anzudeuten, dass sie sich einzig danach sehnte, in Ruhe gelassen zu werden und allein sein zu können. Sie hatte das Gefühl, das Wenigste, was sie tun konnte, war, zu lächeln und zumindest nach außen hin so zu tun, als wäre sie glücklich.
Sie entdeckte bald, dass in Mrs. Hendreds Glaubensbekenntnis Bequemlichkeit und Vergnügen gleich an zweiter Stelle hinter der Mode standen. Venetia hatte angenommen, dass sich Mrs. Hendred als Mutter einer zahlreichen Nachkommenschaft ständig mit mütterlichen Sorgen beschäftigen würde, und war zuerst erstaunt, als sie entdeckte, dass eine Frau, die vor sanfter Liebe derart überfloss, sich damit zufriedengeben konnte, ihre Kinder Erzieherinnen und Kindermädchen zu überlassen. Als sie ihre Tante besser kennenlernte, amüsierte sie sich bei der Erkenntnis, dass Mrs. Hendred zwar ein gutes Herz besaß, in ihrer eigenen Art jedoch genauso egoistisch war wie seinerzeit ihr exzentrischer Bruder Francis. Sie hatte zwar die Mitglieder ihrer Familie und einen großen Freundeskreis recht gern, aber ihre tiefsten Gefühle reservierte sie für sich selbst. Sic war von Natur aus träge, sodass eine halbe Stunde mit ihren Kindern zusammen das Höchste war, was sie zu ertragen vermochte, ohne durch das Geplapper total erschöpft zu werden. Selbst Theresa, knapp vor ihrem Debüt, tauchte mit ihrer nächstjüngeren Schwester nach dem Dinner nur dann im Salon auf, wenn keine Gäste da waren, denn Mrs. Hendred war davon überzeugt, dass es nur wenig Lästigeres gab als Familien, in denen es den Töchtern, die noch nicht gesellschaftsfähig waren, erlaubt wurde, sich unter die Gäste zu mischen. Was Mrs. Hendreds drei Söhne betraf, war der älteste in Oxford, der zweite in Eton und der jüngste im Kinderzimmer.
Mr. Hendred war trotz seiner schlechten Gesundheit selten länger als gerade nur einige Tage nacheinander am Cavendish Square und schien einen großen Teil seiner Zeit damit zu verbringen, dass er durch das Land kutschierte und Geschäfte privater oder öffentlicher Natur erledigte. Veneria hatte nicht den Eindruck, dass er an der Aufzucht seiner Sprösslinge oder der Führung seines Hauses sehr beteiligt war; doch wurde er von allen sehr respektiert, seine wenigen Befehle wurden sofort und blindlings ausgeführt und jede seiner überlieferten Äußerungen als Entscheidung jeglicher Streitfrage akzeptiert. Nachdem er Venetia in seinem Haus untergebracht und ihr gesagt hatte, dass sie sich um das Geld, das sie brauchte, an ihn wenden solle, überließ er es seiner Frau, sie zu unterhalten, und beschränkte seine Aufmerksamkeiten darauf, hie und da eine Hoffnung auszudrücken, dass sie sich gut unterhielte.
Bis zu einem gewissen Grad unterhielt sie sich auch. Es wäre ja auch unmöglich gewesen, wenn sie bei ihrem ersten Besuch Londons keine Zerstreuung und nichts Interessantes gefunden hätte, wo ihr doch alles neu war und so vieles wunderbar erschien. Ihre Tante mochte ja wünschen, dass sie sie in die Oper oder zu Almack hätte führen können, und sagte dutzendmal in der Woche: „Wenn du doch nur während der Saison hier gewesen wärst!", aber der auf dem Land aufgewachsenen Venetia war es ein Rätsel, wie viel Vergnügen man noch hätte in Tage pressen können, die ohnehin schon mit Verpflichtungen vollgestopft waren. Zwar gab es zurzeit nur wenig Leute der großen Gesellschaft in London, aber es waren doch genug Mitglieder des haut ton, die Mrs. Hendreds Meinung über das Landleben teilten, Anfang Oktober in Scharen in die Metropole zurückgekehrt, um für Venetia schon eine Menschenmenge zu sein, und es wurde eine sehr ansehnliche Zahl goldgeränderter Einladungskarten am Cavendish Square abgegeben. Selbst das schäbigste Theaterstück war für einen Menschen, der noch nie im Leben in einem Theater gewesen war, ein Vergnügen; eine Fahrt im Hydepark ging kaum vorüber, ohne dass Mrs. Hendred Venetia auf irgendeine bedeutende Persönlichkeit aufmerksam machte; und ein Spaziergang durch die Bond Street, die mondänste Bummelstraße der Stadt, war voll von Interessantem und Unterhaltsamem, denn man begegnete hier sowohl den tonangebenden Leuten der Mode von erstaunlicher Eleganz, wie es auch hier bestimmt die schönsten Läden der Welt zu betrachten gab. Venetia war durchaus nicht so erhabenen Geistes, dass sie Mode verachtet hätte - sie besaß von Natur aus einen guten Geschmack, und die Kleider, die sie aus Yorkshire mitgebracht hatte,
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