Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
an, die am Stehpult befestigt war, und schlug ein Buch auf.
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken
»Was ist das?«, fragte Leo.
Harlan hasste es, unterbrochen zu werden. Er antwortete widerwillig. »Paul Celan«, sagte er.
Leo hatte die Frage auf den Lippen, ob es ein langes Gedicht sei. Eine große Müdigkeit überkam sie.
Harlan sah sie mit seinen sehr hellen Augen an, holte sich ihre Konzentration zurück. Es war ein langes Gedicht.
Die Stunde der Vögel. Vorboten des Tages. Vera und Jef gingen Hand in Hand den nahen Weg von der Bar zu ihm nach Hause. Die Luft war auch in der kühlsten Stunde des Morgens noch warm. Doch Jef hatte sein Jackett auf Veras nackte Schultern gelegt.
Vera hatte gesungen und im Applaus gebadet. Der Besitzer der Bar hatte gelächelt. War es wie früher?
»Könnten wir auch anders leben? Du und ich?«
»Ohne Nächte in der Bar?«
Vera nickte und war verwundert, dass sie so anfällig war an diesem Morgen. Gleich würde sie weinen.
»Bitte hör auf in der Bongo-Bar«, sagte sie.
»Ich kann noch nicht«, sagte Jef. Ihm war vor Tagen schon klar geworden, dass er nicht einfach aufhören konnte.
Klavierstunden geben. Anderswo spielen.
Der Chef würde ihn nicht aus den Augen lassen wollen. Jef war derjenige, der verraten konnte, dass die Bongo-Bar längst nicht mehr der sauberste Laden der Stadt war.
»Ich habe Geld genug für uns beide.«
Jef blieb stehen und sah sie an. »Ich werfe eine Villa am Niederrhein hinein«, sagte er.
»Das Haus deines Vaters?«
»Ich habe es geerbt. Von der vierten meiner Stiefmütter.«
»Was verschweigst du mir noch alles?«, fragte Vera.
»Ich weiß es noch nicht lange.«
»Sie ist tot? Und die Tochter?«
Jef zuckte die Achseln. »Fragen, die ich dem Amtsgericht gestellt habe«, sagte er, »die Antworten stehen noch aus.«
»Lass uns neu anfangen.«
»Neu anfangen? Bist du bereit, dein Leben hier aufzugeben? Deine Wohnung? Diese Stadt?«
»Wäre das alles nötig?«, fragte Vera.
»Er lässt mich nicht gehen«, sagte Jef, »er weiß, dass ich weiß, dass er in einem Drecksgeschäft drinsteckt.«
»Ja«, sagte Vera. Sie hatte es doch längst geahnt.
Sie kamen vor Jefs Haus an und standen vor der Tür, als müssten sie sich hier verabschieden. Von einem der Balkons gegenüber schaute ihnen ein Mann im Unterhemd zu und rauchte eine Zigarette dabei. Es war kurz nach vier.
»Lass uns nach oben gehen«, sagte Jef.
Vera guckte auf das Gesprenkel des Terrazzo, als sie die Treppen hochstiegen. Verdrängte die Traurigkeit.
»Ich liebe dich«, sagte Jef, »ich habe nur Marie so geliebt.«
Vera nickte und dachte an Gustav.
All die Hypotheken, die sie durchs Leben schleppten.
»Ich liebe dich, Jef«, sagte sie und zog ihn auf die kalten Terrazzosteine und küsste ihn.
Gott, lass es gut gehen, dachte sie.
Nichts war gut gegangen für Perak an diesem Nachmittag im Juni. Er hatte lange vor den Schaufenstern des Juweliers gestanden und irgendwann wohl genügend trostlos gewirkt, dass ihm jemand ein paar Cents in die Hand drücken wollte.
Vielleicht knitterte das Leinen des Anzuges zu leicht und sah dann für das unkundige Auge verwahrlost aus.
Vielleicht löste er sich allmählich auf und wurde zum Penner.
Philip Perak war so sehr außer sich, dass er die Treppe zur Untergrundbahn hinunterstieg und seinen Irrtum nur darum bemerkte, weil einige junge Kerle ihn anrempelten, die doch nichts anderes wollten, als ihre Bierbüchsen zur gegenüberliegenden Alsterseite tragen und während des Trinkens den Schiffen und den Schwänen zuzusehen.
Perak floh und stieg in das nächste Taxi ein. Ließ es die Alster entlangfahren, unschlüssig, ob er schon nach Hause wollte, um der Heiterkeit zu entfliehen, die diese Stadt ergriff, kaum dass einmal die Sonne schien. Horden schoben sich die Außenalster entlang. Standen in Pulks. Enge. Nähe.
An der Fährhausstraße forderte er den Fahrer zum jähen Bremsen auf. Der Mann tat es und empörte sich im nächsten Augenblick ob dieser Zumutung. Drehte sich nach seinem Fahrgast um, der mit weit aufgerissenen Augen aus dem Rückfenster guckte. Was war dort zu sehen?
Eine Frau mit Hund. Fahrradfahrer. Eine andere Frau, groß und mit auffallend langen dunklen Locken.
Philip Perak hielt einen zu großen Schein hin und wartete das Wechselgeld nicht ab. Stand schon auf der Straße, als der Fahrer noch nach den Eurostücken
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