Verbotene Sehnsucht
der Mann auf das Klingeln reagierte.
» Mylord?«, fragte er, und seine kleine, stämmige Figur nahm eine militärische Haltung ein.
» Wie bin ich gestern Nacht ins Bett gekommen?« James griff nach dem Bettpfosten und stützte sich daran ab, während er sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken rieb und den Schmerz hinter den Augen zu vertreiben suchte.
Die Antwort ließ so lange auf sich warten, dass er gezwungen war, den Kopf zu heben und vorsichtig ein Auge zu öffnen. Randolph stand in der Tür und blickte ihn verwirrt an, was James mit wachsender Ungeduld quittierte.
» Äh… Ich möchte behaupten, so wie immer, Mylord.«
James massierte jetzt seine Schläfen. Nun, wie es schien, würde Randolph das Rätsel der vergangenen Nacht nicht lösen können.
» Bitte bringen Sie mir Kaffee. Am besten, eine ganze Kanne. Und bereiten Sie mir ein Bad vor.« Mit dieser Anweisung schickte er den Diener fort.
Konnte es sein, dass es doch Victoria war, die ihn nach oben gebracht hatte? Was für ein unangenehmer Gedanke, oder, besser gesagt, ein höchst erschreckender. Er stöhnte leise, weil er das Gefühl nicht loswurde, sein Schädel müsse in zwei Hälften zerspringen. Aber mehr noch, weil er sich um nichts in der Welt erinnern konnte, was genau letzte Nacht geschehen war– ob er etwa seine gesamte Zukunft aufs Spiel gesetzt hatte, indem er die Tochter eines verdammten Marquess kompromittierte.
Er sank auf die Bettkante. Gleichermaßen vor Schmerz und quälender Angst ließ er den Kopf sinken. Zumindest dürfte auszuschließen sein, dass er Sex mit ihr hatte, ohne sich daran zu erinnern. Noch dazu mit einer Jungfrau. Er sprang auf und untersuchte eingehend das weiße Bettlaken, aber keine Spur von Blut. James nahm das zumindest als gutes Zeichen.
Doch das war es dann auch. Obwohl er sich noch ein paar Minuten lang zwang, sich an die Nacht zu erinnern, verweigerte sein Gedächtnis die Zusammenarbeit. Nichts als gähnende Leere. Es sah ganz so aus, als gebe es nur einen einzigen Weg, die Wahrheit zu erfahren: So beschämend, um nicht zu sagen demütigend es auch sein mochte, er musste die Lady aufsuchen. Nur sie konnte ihm sagen, ob er sich zu Handlungen hatte hinreißen lassen, die nicht ohne Folgen bleiben konnten.
6
N ormalerweise störte Missy sich nicht an der Wissbegierde ihrer Schwestern. Im Gegenteil, die meiste Zeit begrüßte sie sie sogar. Aber dieser Tag gehörte nicht dazu; heute wünschte sie sich, in ihrem Zimmer bleiben und sich ihrer Traurigkeit hingeben zu können, während draußen der Tag verstrich.
» Warum liegst du immer noch im Bett?«, fragte Emily von der Tür her. Sarah, ihrer Schwester in Größe und Statur sehr ähnlich, stand als Kampfgefährtin neben ihr. Missy schob ihr schlechtes Gewissen entschlossen beiseite, schob ihren Kopf ein wenig über den rosafarbenen Bettüberwurf hinaus und warf ihnen abweisende Blicke zu, die eindeutig signalisierten: Lasst mich bloß in Ruhe und verschwindet.
Sarah und Emily indes scherten sich nicht darum, sondern spazierten ungeniert ins Zimmer, warfen sich auf das Bett der Schwester, auf dem sich die Farben ihrer gemusterten Hauskleider wie zu einem Blütenstrauß von Rosa über Lavendel bis Violett vermischten.
» Es sind heute früh schon Blumen angekommen. Der Salon sieht bald aus wie der Laden eines Floristen«, spottete Sarah. In ihren grünen Augen blitzte unverkennbar Vergnügen auf. » Mama ist begeistert.«
Wie begeistert ihre Mutter wohl erst wäre, wenn sie endlich einen Ring am Finger trüge und der Termin für die Hochzeit im Kalender eingetragen wäre. Missy hingegen war gottsfroh, dass ihr noch eine Galgenfrist blieb, um die Dinge vielleicht doch noch in die gewünschte Richtung zu lenken.
Trotzdem warf sie ihrer jüngeren Schwester einen zustimmenden Blick zu und versuchte zu lächeln. Trotz ihres Elends empfand sie Stolz darüber, dass ihre Beliebtheit nach mehreren Jahren auf dem Heiratsmarkt offenbar immer noch ungebrochen war. Natürlich vermochte das nicht ihre schlechte Stimmung wegen James’ mangelnder Aufmerksamkeit grundlegend zu bessern.
» Ich sollte wohl wirklich aufstehen und mich nach unten begeben«, meinte Missy, ohne ihren Worten Taten folgen zu lassen.
» Aber erst musst du uns erzählen, was gestern passiert ist. Wie viele Gentlemen sind gekommen?«
Sarah interessierte nur die Menge, egal ob es sich um ehrenwerte Herren oder stadtbekannte Schurken handelte. In ihrer jugendlichen Naivität maß
Weitere Kostenlose Bücher