Verdacht auf Mord
Jungen könnt noch durchfeiern und am Tag danach arbeiten«, hatte Ann-Britt gemeint.
Vielleicht stimmte das ja. Aber jetzt erwartete sie das Bett. Und Leo. Sie wollte nur noch eben den Bericht über eine Zweitgebärende mit PN, Partus normalis, die in das Patientenhotel verlegt werden sollte, fertig stellen. Das ging rasch. Der Verlauf war kurz und effektiv gewesen. Bei ihrem Eintreffen war der Muttermund bereits ganz geöffnet gewesen, und kaum war sie über die Schwelle getreten, da war das Kind auch schon zur Welt gekommen. Die Frau, die Zwillinge erwartete, hatte dagegen noch einiges vor sich. Ester hatte sie an Rigmor übergeben.
Sie unternahm einen raschen Rundgang durch die Zimmer, um sich kurz zu verabschieden. Die Frischentbundene und der dazugehörige Vater befanden sich im Zustand der Glückseligkeit, den nur ein Neugeborenes hervorrufen kann. Trotz ihrer bleiernen Müdigkeit fand sie, dass sie sich für den wunderbarsten Beruf dieser Erde entschieden hatte. Anschließend begab sie sich zu der baldigen Mutter, die Zwillinge erwartete, und wünschte ihr viel Glück. Sie vermied es, sich auf eine fruchtlose Diskussion darüber einzulassen, wie die Entbindung enden würde. Oder beendet werden würde. Bisher war alles gut gegangen. Trotzdem war das Thema im Laufe des Nachmittags, als immer mal wieder alles stillgestanden hatte, zur Sprache gekommen. Die werdende Mutter war vollkommen erschöpft. Ester und die Pflegehelferin hatten sie, so gut es ging, aufgemuntert. Sie hatten versucht, der ständigen Frage auszuweichen, ob nicht ein Kaiserschnitt ratsam sei. Ester wusste, dass die Hebamme, die sie ablöste, viel mehr Erfahrung besaß. Wenn es ihr nicht gelang, die Frau zu entbinden, dann gelang es niemandem. Mit dem Dienst habenden Arzt sah es hingegen nicht so gut aus, da er ausgesprochen vorsichtig wirkte. Weil er noch recht neu war, gab es noch einen Arzt im Hause, der über solidere Kenntnisse und mehr Erfahrung verfügte.
»Hat der Neue wirklich ein abgeschlossenes Medizinstudium?«, hatte Josefin unlängst beim Kaffee gescherzt. »Er wirkt so unbeholfen.«
Sie war manchmal hart, und sie war nicht die Einzige. Es wurden gelegentlich gnadenlose Urteile gefällt. Ester war dabei ein wenig unbehaglich zumute, weil es ihren Vorstellungen von Solidarität widersprach. Der neue Arzt war ein Freund von Leo. Sie wünschte ihm so sehr, dass er sich als beliebt und anstellig erweisen würde, denn das hätte sie Leo erzählen können. Aber über die jetzige Situation sprach sie nicht. Sie schwieg einfach. Sie kannte ihn nicht sonderlich gut. Es war auch so schon unangenehm genug. Aber mit der Zeit würde er vielleicht noch die Kurve kriegen. Eigentlich brauchte er ihr nicht leidzutun. Er war recht gut aussehend und hatte, soweit sie wusste, auf anderen Gebieten durchaus Erfolg. Aber das waren vielleicht auch nur Gerüchte.
Sie nahm ihre Brieftasche aus ihrem Metallspind, eilte in den Keller und zog sich um. Im Fahrradkeller holte sie mehr gewohnheitsmäßig ihr Handy aus der Tasche. Drei Nachrichten in der Mailbox. Sie hörte die erste ab, während sie ihr Fahrrad mit der anderen Hand die Rampe hochschob. Eine Stimme, die sie nicht kannte, forderte sie auf, eine bestimmte Nummer anzurufen. Sie hatte nicht genug Zeit, die Nummer zu notieren, aber die beiden anderen Nachrichten hatten genau denselben Wortlaut. Nach dem dritten Mal hatte sie die Nummer im Kopf.
Als sie zwischen der Frauenklinik und dem ebenso ziegelroten Gebäude der HNO-Klinik stand, wählte sie die Nummer, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
Ein ihr unbekannter Mann meldete sich, als gerade ein Krankenwagen vor der Notaufnahme hielt. Ein alter Mann wurde auf einer Trage herausgehoben. Das hier ist mein Arbeitsplatz, und so sehen die Firmenwagen aus, dachte sie. Sie schaute zu Bodén, um sich besser konzentrieren zu können. Die Verbindung war schlecht.
»Ich weiß gar nicht, worum es geht«, sagte sie. Vielleicht hatte er aus Versehen ihre Handynummer gewählt.
Mit einem etwas zwiespältigen Gefühl nannte sie nochmals ihren Namen. Ob das so klug war? Wenn das jetzt irgendein suspekter Typ war?
Dann begriff sie jedoch, dass es ernst war. Die Intensivstation. Jemand, den sie vielleicht kannte. Bewusstlos. Wer? Leo?
Verzweifelt schob sie ihr Fahrrad zurück. Rannte den Tunnel entlang und dem Herz des Krankenhauses entgegen, dem sogenannten »Block« mit seinen zwölf Stockwerken.
Zehnter Stock hatte er gesagt. Es sei nicht eilig. Aber wer
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