Verdacht auf Mord
Studentenverbindungen.
Sie war schon einige Male umgezogen und hatte sich eigentlich zu alt gefühlt, um immer noch in einem Studentenheim zu wohnen. Ihre Erwartungen waren gering. Trotzdem war sie froh gewesen, überhaupt ein Zimmer ergattert zu haben.
Bereits am zweiten Tag war sie geradezu überrumpelt worden.
Es war in der Gemeinschaftsküche mit Fenstern zum Innenhof geschehen. In der Mitte hatte ein Esstisch mit einem rot-weiß gestreiften Wachstuch gestanden. An beiden Enden der Küche hatten sich Schränke, eine Spüle und ein Herd in halbwegs akzeptablem Zustand befunden.
Sie hatte Schranktüren geöffnet und Schubladen herausgezogen, um sich einen Überblick zu verschaffen, und dann ihre Sachen eingeräumt.
Ein wahnsinnig gut aussehender Medizinstudent – obwohl sie damals natürlich nicht wusste, was er studierte – hatte am Herd gestanden und Fischstäbchen gebraten. Er war ihr sofort aufgefallen, denn einen so attraktiven Mann übersah man einfach nicht. Er hatte so ziemlich alles Bisherige übertroffen.
Sie hatte eine Bratpfanne hervorgeholt und etwas Butter hineingegeben. Dann hatte sie zwei Eier in eine Schale geschlagen, zwei Esslöffel Wasser und eine Prise Salz dazugegeben und mit einer Gabel umgerührt. Er hatte sich die ganze Zeit hinter ihr befunden. Der große Esstisch zwischen ihnen war zu einer Bühne angewachsen, auf der sich nur zwei Schauspieler befunden hatten. Sie und er.
Es hatte zwar auch Zuschauer gegeben, welche, daran konnte sie sich anschließend nicht mehr erinnern. Dass sie nicht allein gewesen waren, hatte gemischte Gefühle in ihr hervorgerufen. Sie hatte Angst gehabt, sich gleich zu Anfang zu blamieren, für lächerlich oder auch eitel gehalten zu werden.
Es wäre also einfacher gewesen, wenn sie allein gewesen wären. Aber jetzt war es nun einmal so gewesen, und obwohl ihr bewusst gewesen war, dass sie sich vielleicht lächerlich machte, hatte sie sich einfach nicht beherrschen können.
Er hatte geflirtet. Erst hatte er ihr nur kurze Blicke zugeworfen, und dann war er immer deutlicher geworden. Er hatte sich ungeniert und fast rührend übertrieben verhalten. Er hatte ihr Küsse zugehaucht und sich wie ein Hoflakai verbeugt. Seine Augen hatten gefunkelt, seine Zähne gestrahlt. Er hatte gelacht. Er war so lebendig gewesen! Es hatte so viel Leben in ihm gesteckt.
Sie hatte ihm verblüfft zugesehen, war allerdings nicht nur geschmeichelt, sondern auch ein wenig verlegen gewesen. Er hatte sich vollkommen verrückt und übertrieben aufgeführt.
Konnte sie dieser merkwürdigen und grenzenlosen Flut von Gefühlen entsprechen? Sie hatte diese pfauenhafte Anmache wirklich mit zwiespältigen Gefühlen beobachtet. Er hatte ihr alle seine Schwanzfedern entgegengestreckt. Es war ein zweifelhaftes Vergnügen gewesen, der Gegenstand solch roher Gelüste zu sein. Aber noch schlimmer wäre es gewesen, wenn er ihr keinerlei Beachtung geschenkt hätte.
In der Studenten-WG hatte es bald zwei vorherrschende Auffassungen gegeben: Die einen waren beeindruckt gewesen, die anderen hatten Jonathan widerwärtig gefunden.
Aber niemandem war er gleichgültig gewesen.
Am allerwenigsten ihr.
Trotz seiner übertriebenen, gezierten Art hatte sie ihn auf unerklärliche Weise unwiderstehlich gefunden. Dieser schöne Mann verschwendete all seine Energie auf sie. Blendete sie mit seiner Sonne.
Dass er gut aussah konnte als mildernder Umstand gelten. Sie hatte seine überspannte und theatralische Art charmant und lebendig gefunden. Weder vernünftig noch manierlich. Und alles andere als durchschnittlich. Er war ein Mann gewesen, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.
Und mit all diesen Träumen hatte er ausgerechnet sie überhäuft und sonst keine. Ihr war ganz warm geworden, und ihr Blut hatte heftig in ihren Adern pulsiert. Er hatte nur sie gewollt und sonst keine.
Und sie hatte in dem Glauben gelebt, die Einzige zu sein. Was hätte sie auch sonst glauben sollen? Sie war die Auserwählte gewesen, nach der er tage- und nächtelang gesucht hatte.
Dass jemand so lieben konnte.
Dass sie so geliebt wurde.
Und vor Liebe war sie blind gewesen. Als sie so allmählich erfahren hatte, dass er noch vor einem halben Jahr mit einer anderen Frau aus der Studenten-WG zusammen gewesen war und dann mit noch einer, zweien oder dreien gleichzeitig, da hatte sie nichts davon wissen wollen.
Und doch!
Auch wenn das wahr gewesen wäre: Sie hatte das verzweifelte Bedürfnis empfunden, ihre große Liebe zu
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