Verfallen
Ich höre nur das leise Summen der Lampe. Sonst nichts.
Mein Denken wird von Angst und Schmerz beherrscht, aber ich weiß, dass ich nicht den Mut verlieren darf. Fällt mir denn gar nichts ein, wie ich hier herauskommen kann? Ich muss versuchen, wach zu bleiben, ich muss nachdenken, eine List ersinnen. Irgendetwas. Solange ich meinen Geist damit beschäftige, kann er sich keine Schreckensszenarien ausmalen, eines grausiger und abscheulicher als das andere.
Während ich dort auf dem kalten Boden liege, stelle ich mir eine Reihe von Fragen. Wer sind diese Männer? Einer von ihnen war Franzose, aber der andere sprach Französisch mit ausländischem Akzent – skandinavisch, deutsch? Was treibt diese Leute um? Was wollen sie von mir?
Das Haus? Hat es etwas mit Diannes Haus zu tun? Oder geht es um Dianne selbst? »Sie ist es!«, hat einer der Entführer gerufen, als sie ins Haus eindrangen. Was hatte das zu bedeuten?
Wo ist Dianne?
Dianne.
Mir bricht der Schweiß aus. Mein Atem geht schneller, und mein Blick wird glasig, als ich die Situation einmal nüchtern betrachte: Dianne ist spurlos verschwunden, ohne ersichtlichen Grund. Ein Bauernehepaar wurde ermordet.
Zu ungefähr derselben Zeit, im selben Weiler.
Und sie wurde zwei Tage später gefunden. Im Wald.
Die Wälder hier sind kaum mit denen in den Niederlanden vergleichbar. Sie erstrecken sich über große Flächen, unzählige Quadratkilometer ursprüngliche Natur, die man stunden-, ja tagelang durchwandern kann, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Angenommen, die arme schwangere Frau wäre nicht gefunden worden? Angenommen, ihre Leiche hätte anderswo in diesen tiefen, dunklen Wäldern gelegen, wo niemand sie entdeckt hätte?
Würde sie jetzt auch als »vermisst« gelten?
Vermisst, wie Dianne?
Warum habe ich das nicht schon früher erkannt? Wie konnte ich diesen Zusammenhang bloß übersehen? Seit meiner Ankunft hier habe ich in großer Gefahr geschwebt, indem ich hiergeblieben bin, und dann auch noch in Diannes Haus. Darüber war ich mir nicht im Klaren gewesen – jedenfalls nicht in vollem Umfang.
Erwin müsste inzwischen von der Werkstatt zurück sein. Sucht er mich? Wann wird er begreifen, dass mir etwas zugestoßen ist, und die Polizei alarmieren? Doch nehmen die Gendarmen seine Meldung ernst? Wahrscheinlich verstehen sie nicht einmal richtig, was Erwin von ihnen will. Werden sie eine Suchaktion starten?
Wo bin ich eigentlich?
Können sie mich hier finden?
Der lang gezogene tierische Schrei, der von den Kellerwänden widerhallt, stammt aus meiner eigenen Kehle.
37
Sie sind wieder da. Wie zwei Gestalten aus einem Horrorfilm stehen sie nebeneinander in der Tür, in ausrangierter Militärkleidung und mit glänzenden Schweinemasken vor den Gesichtern.
Ich kauere mich zusammen, versuche, von ihnen wegzukriechen, mich an die Wand zu drängen.
Sie schließen die Tür hinter sich und kommen ruhigen Schrittes auf mich zu. Die Kette rasselt, als das Vorhängeschloss abgenommen wird. Ein Mann betritt den Käfig, der andere hängt die Kette an einen Gitterstab und blockiert den Ausgang mit seiner hochgewachsenen Gestalt.
»Was wollt ihr?«, frage ich auf Französisch. Meine Stimme klingt piepsig und rau.
Keine Antwort. Zwei funkelnde Augenpaare blicken hinter den Masken hervor auf mich herab. Als sich der Kleinere über mich beugt und ein Messer zückt, fange ich an zu schreien. Ich zappele, versuche, mich loszureißen, und wälze mich wild hin und her.
Doch er lässt sich nicht irritieren, hält mich am Oberarm fest, schiebt das Messer zwischen meine Ellenbogen und schneidet die Stricke durch. Der zweite Mann zerrt an den Stricken um meine Knie und Knöchel, um zu kontrollieren, ob sie noch fest genug sitzen. Er löst sie nicht.
»Was wollt ihr?«, wiederhole ich. Tränen fließen mir über die Wangen.
Meine Entführer ziehen mich hoch, stellen mich auf die Füße und zerren mich aus dem Käfig hinaus.
Meine Arme sind so lange unnatürlich auf den Rücken gezogen gewesen, dass ich bei der groben Behandlung vor Schmerzen wimmere.
Mitten im Raum bleiben wir stehen. Einer der Männer stellt sich vor mich. Der andere packt meinen Oberarm fest wie in einem Schraubstock und zieht mein Handgelenk mit einem Ruck nach hinten und nach oben.
Höllische Nervenschmerzen schießen mir durch Arm und Schulter. Unwillkürlich beuge ich mich nach vorn, um den Druck zu mindern. Ich kann mich kaum aufrecht halten. Mir bricht der Schweiß aus, ich spüre, wie
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