Verfallen
Tupfen auf dem ausgedehnten See ab.
Dianne blickte ernst. Im dunklen Schatten der Bäume wirkten ihre Sommersprossen dunkelgrau. Das Kartoffelschälmesser lag locker in ihrer Hand. An der Klinge klebte Blut. Mein Blut.
»Soll ich jetzt weitermachen?«, fragte Dianne.
Ich nickte.
Meine Handfläche fühlte sich klebrig an. Fasziniert betrachtete ich die kleine Wunde – ein dünner Strich, nicht länger als ein Nagel, und doch war so viel Blut herausgeflossen.
Ich hatte versucht, einen Aufschrei zu unterdrücken, als Dianne das Messer ansetzte, aber es war mir nicht gelungen. Einige Mütter hatten beunruhigt aufgeblickt. So unauffällig wie möglich hatten wir das Messer in Diannes Handtuch eingerollt und uns von der Wiese entfernt.
Jetzt standen wir hier.
Konzentriert bohrte Dianne die Spitze des Messers in ihre linke Handfläche. Ihre Stirn war gerunzelt, und ihre dunklen Haare fielen ihr strähnig ins Gesicht. Sie drückte fester. Ich sah, wie sie die Spitze in ihre Haut bohrte, immer tiefer und tiefer, bis die Spannung nachließ.
Dianne zischte und atmete tief ein. Dann schnitt sie mit einer einzigen Bewegung von der Mitte ihrer Handfläche in Richtung Puls.
Ich schlug die Hände vor den Mund.
Blut quoll aus dem Schnitt. Ein hellrotes Rinnsal floss über ihr Handgelenk.
»So«, sagte sie atemlos. »Geschafft.« Sie blickte mich an. Aufgewühlt, erregt. Dann reichte sie mir das Messer. »Jetzt du.«
Ich tat, was sie getan hatte. Setzte das Messer auf meiner Handfläche an und drückte es in Richtung des Schnittes, den sie schon eben auf der Wiese angebracht hatte. Ich drückte fester.
Ein gemeiner Schmerz durchzuckte meine Hand bis in den Ellenbogen hinein.
Ich erschrak.
Zog das Messer zurück.
Schüttelte verängstigt den Kopf. »Ich traue mich nicht!«
Dianne blickte mich finster an. Sie stand vor mir und unterstützte die blutende Hand mit der anderen. Sie sagte nichts.
Sie hatte es getan.
Ich konnte keinen Rückzieher machen.
Das wäre Verrat gewesen.
»Okay, okay«, flüsterte ich, biss die Zähne zusammen und holte tief Luft. Stockend. Noch einmal. Und noch einmal.
Tu es!
Nicht nachdenken, Eva.
Tu! Es! Jetzt!
Mit fest geschlossenen Augen zog ich das Messer durch meine Handfläche. Ich fühlte etwas Warmes über meine Finger fließen und ließ das Messer fallen. Ich weinte lautlos und zitterte – mehr vor Schreck als vor Schmerz.
Aber ich hatte es getan.
Dianne hob ihre blutende Hand, und ich drückte meine dagegen.
Minutenlang blieben wir so stehen.
»Unser Blut vermischt sich jetzt«, flüsterte Dianne. Eindringlich sah sie mich durch ihre Haarsträhnen hindurch an.
Ich war erst neun, aber von der Feierlichkeit des Rituals und dem unzerstörbaren Band, das wir schmiedeten, ganz erfüllt. Ich wusste, dass es gelinde gesagt nicht ganz normal war, was wir da taten, aber zugleich war mir klar, dass wir diesen Moment niemals vergessen würden.
Dianne zog unsere Handflächen auseinander.
Die Wundränder klafften auseinander, und wieder floss Blut heraus. Mir wurde schwindelig, und ich befürchtete, ohnmächtig zu werden.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte Dianne den Daumen an den Rand ihrer Wunde. Das Blut quoll heraus, lief ihr über die Hand und tropfte in den Sand. »Du auch«, sagte sie und nickte mir zu.
Ich betrachtete die Blutstropfen, die in die Erde zu unseren Füßen fielen.
»Das hier ist von jetzt an unser Platz«, flüsterte sie. »Sollten wir uns je aus den Augen verlieren, hinterlassen wir hier eine Nachricht für die andere. Dadurch können wir einander nie verlieren.«
Ich streckte den Arm aus und tat es ihr nach. Tränen liefen mir über das Gesicht. Es tat weh, es tat furchtbar weh. Zugleich war ich von Stolz erfüllt.
Dianne und ich waren Schwestern geworden.
48
Es ist schon dunkel, als ich vor dem Eingang des Krankenhauses aus dem Polizeiauto steige.
Ich eile hinein.
Die Uhr im Zentralfoyer zeigt Viertel nach sechs an. Ich habe Dianne nicht mehr gesehen, seitdem ich heute Morgen von der Police nationale abgeholt wurde.
Erwin ist den ganzen Tag bei ihr gewesen. Das musste er mir heute Morgen hoch und heilig versprechen: Er würde immer in ihrer Nähe bleiben und nicht einmal in die Kantine gehen, um sich etwas zu essen zu holen.
Ich bin zu ungeduldig, um inmitten der Besucher und der Leute in weißen Kitteln am Aufzug zu warten, renne die Treppe in den ersten Stock hinauf und komme außer Atem auf der Station an. Beunruhigt eile ich durch die
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