Verfault 2 xinxii
ich den Grund seines Ausrufes. Dort an der Wand befand sich ein Spiegel, der sich deutlich von den anderen unterschied. Dieser Spiegel wirkte viel älter, was an seinem kunstvoll-verzierten, goldenen Rahmen lag, der ihn aus der Reihe aller Spiegel hervorstechen ließ. Der mehr als mannshohe Rahmen war mindestens 10 Zentimeter breit und die Überbleibsel meiner Schulbildung, wies die Stilrichtung eindeutig als Barock aus. Geschwungene Linien, die Zweigen oder Blüten ähnelten versammelten sich in den ausladenden Ecken und die Wellenform der abgerundeten Außenkanten vollendete seine prachtvolle Erscheinung. Anfangs vermutete ich, dass früher ein Bild anstelle des Spiegels eingerahmt war, aber ich verwarf diesen Gedanken wieder. Dieser Spiegel und die dazugehörige Einfassung bildeten eine untrennbare Einheit. Dies musste einer der Spiegel sein, vor dem mich der alte Mann gewarnt hatte, und unvermittelt kehrte meine Unruhe zurück. Bisher hatte ich mehr den Rahmen, als den Spiegel betrachtet und obwohl es lächerlich war, zögerte ich eine Weile, bis ich bewusst hineinblickte. Etienne war schon ein Stückchen weitergelaufen und hatte offensichtlich nichts darin, außer seinem Spiegelbild, entdeckt.
Ich schaute direkt in den Spiegel und was sah ich? Ich sah mich, wie ich direkt in einen Spiegel schaute! Was hatte ich auch anderes erwartet? Es war ein Spiegel und keine magische Glaskugel. Etwas geschah und meine Arroganz verschwand so schnell, wie sie gekommen war, denn mein Spiegelbild veränderte sich und ich trat erschrocken einen Schritt nach hinten. Ich, bzw. mein gespiegeltes Gegenüber wurde unscharf! Anfangs hoffte ich auf eine optische Täuschung, aber es geschah wahrhaftig. Mein Spiegelbild wurde verpixelter und wirkte nach einigen Sekunden wie ein Foto, dass in zu geringer Auflösung aufgenommen worden war. Dies warlängst noch nicht alles, denn zeitgleich verlor es noch die Farbe! Mein Spiegelbild wurde immer unschärfer, wirkte mehr wie eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie und verschwand letztlich völlig. Der Spiegel, in den ich schaute war leer! Vollkommen leer!
Ich wollte wegrennen, nach Etienne rufen und dies alles zeitgleich, aber stattdessen blieb ich wie eingefroren vor diesem grauenvollen Spiegel stehen. Unfähig mich zu bewegen und einen Laut von mir zu geben. Mir fiel der Vergleich zu einem Vampir oder einem Geist ein, den man nicht in einem Spiegel erkennen konnte und begann an meinem Verstand zu zweifeln, als in der glänzenden Oberfläche plötzlich Personen zu erkennen waren. So, wie mein Spiegelbild eben verschwunden war, entstanden jetzt neue Bilder, allerdings in umgekehrter Abfolge. Erst unscharf, dann detaillierter bis ich deutlich eine Szene erkennen konnte. Es war unheimlich und erschreckend, da ich die Personen im Spiegel sofort erkannte. Dort standen meine Mutter, meine Zwillingsschwester und ich als kleine Mädchen vor dem Eiswagen, der im Sommer täglich durch unsere Straße fuhr. Ich erinnerte mich noch genau an die Situation, die typisch für das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter war. Meine Schwester bekam ein Eis gekauft, da sie eine gute Note in der Schule erhalten hatte und ich bekam nichts. Die bewegten Bilder, die vor meinen Augen im Spiegel abliefen, waren ein unverfälschtes Zeugnis meiner Vergangenheit. Meine Schwester mit ihrem riesigen Eis in der Hand und ich weinend daneben. Mir kamen auch jetzt wieder die Tränen und ich vergaß für einen Moment, was für eine surreale Situation dies hier war. Wäre Etienne nicht gekommen, hätte ich mich wahrscheinlich nie von diesem Anblick lösen können, aber er kam angerannt, erschien vor dem Spiegel und innerhalb von
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