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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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Rassul nur zwei Wünsche: Zuallererst, dass er kein Blut unter dem Baum findet – er zweifelt noch immer an seinem Alptraum –, und dann, dass er Yarmohamad nicht über den Weg läuft – er will sich die Hände nicht an dem verdorbenen Blut des gehassten Mannes schmutzig machen, denn der Tod bedeutet für diese Sorte Menschen eine Gunst. Man muss sich in ihr Leben einschleichen, sich in ihrem Geist einnisten, ihre Träume belagern, ihr Verhängnis werden.
    Er tritt also ein. Die Bücher unter dem Arm. Durch tiefe Dunkelheit geht er auf den Baum zu und fährt mit der Hand über den Stamm. Er untersucht den Boden unter dem Baum. Keine Spur von Blut. Er richtet sich wieder auf und schaut hoch zum Fenster seines Zimmers. Die Scheibe ist tatsächlich eingeschlagen. Er schaut zu Yarmohamads Fenster. Nach kurzem Zögern geht er darauf zu und ruft, er sei wieder da, gesund und munter. Der Schrei bleibt in seiner Kehle stecken. Da klopft er ans Fenster. Yarmohamads rasierter Schädel taucht im Halbschatten auf. Mit verschlafenem Gesicht und besorgt, dass seine Frau und seine Kinder wach werden könnten, bittet er Rassul, sich zu beruhigen. Vergeblich. Rassul hämmert weiter auf die Scheibe ein. Dann schwenkt er seine Bücher und hebt den Unterarm zu einer obszönen Geste. Dreht ihm den Rücken zu und macht sich auf den Weg zu seinem Zimmer. Erleichtert, triumphierend.
    Nur zu, Yarmohamad, geh wieder schlafen, sämtliche Alpträume warten auf dich! Ich werde dich in deinen Träumen heimsuchen.
    In seinem Zimmer bekommt er Lust zu schreien. Vor Freude. Oder vor Schreck. Er stößt kraftvoll die Luft aus, bringt aber nichts als Atem hervor, heißen Atem, ohne Freude und ohne Schrecken.
    Kalter Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter. Er wirft die Bücher auf den Boden, zündet eine Kerze an. Vor allem das eingeschlagene Fenster wundert ihn. Er versteht noch immer nicht, wie er es im Schlaf hat einschlagen können.
    Habe ich den Verstand verloren? Heißt es nicht, es sind die ersten Anzeichen des Wahnsinns, wenn der Alptraum über den Schlaf hinaustritt, um sich in den Wachzustand einzuschleichen und sich darin festzusetzen?
    Verzweifelt zieht er die Schuhe aus und legt sich hin. Er hat Angst, die Augen zu schließen. Angst vor seinen Alpträumen. Ja, es sind die Bettdämonen, die Schatten der Nacht, die mir die Stimme stehlen, mir den Verstand rauben. Ich schlafe nicht mehr!
    Doch die Müdigkeit ist stärker als der Wille. Sie klappt ihm die Augen zu, stößt ihn in den Abgrund der Finsternis. Erst die Explosion einer Granate ganz in der Nähe reißt ihn wieder daraus empor. Er schreckt hoch. Setzt sich schweißgebadet auf. Seine Zunge ist noch immer trocken, seine Brust brennend heiß.
    Und wieder Stille.

    Der Berg verschlingt den Mond.
    Die Nacht verzehrt die Kerze.
    Das Dämmerlicht betäubt das Zimmer.
    Rassul steht auf. Er steckt über die Reste der abgebrannten Kerze eine neue Kerze, trinkt Wasser, dann kehrt er zum Bett zurück. Er will sich nicht mehr hinlegen. Er bleibt sitzen, an die Wand gelehnt. Was tun? Lies ein Buch. Er beugt sich vor, um aufs Geratewohl eines zu greifen, wirft es aber sofort wieder hin und sucht nach dem ersten Band von Verbrechen und Strafe , den er auf der Seite öffnet, wo Raskolnikow nach dem Mord nach Hause zurückkehrt … » Lange blieb er so liegen. Hin und wieder war es ihm, als wache er auf, und in diesen Minuten bemerkte er auch, daß es längst Nacht war, aber er dachte nicht daran, sich zu erheben. Endlich merkte er, daß es morgenhell war. Er lag immer noch flach auf dem Sofa, noch ganz benommen von der weichenden Bewußtlosigkeit. Schreckliches, wüstes Gebrüll drang von der Straße zu ihm herauf, wie es ihn übrigens auch sonst jede Nacht gegen drei Uhr erreichte. Es hatte ihn auch jetzt geweckt. ›Ah, die Besoffenen kommen schon aus den Kneipen‹, dachte er, ›es ist gleich drei‹ – und plötzlich sprang er auf, als hätte ihn jemand emporgerissen. ›Wie! Bald drei!‹ Er setzte sich auf das Sofa, und da erinnerte er sich an alles! Plötzlich, in einem einzigen Augenblick, erinnerte er sich an alles!  …
    Im ersten Moment glaubte er, er müßte den Verstand verlieren. Eine furchtbare Kälte durchrieselte ihn; aber  …« diese Kälte kommt nicht von draußen. Nein, es ist überhaupt nicht kalt. Es ist eher eine Kälte, eine eigenartige Kälte, die von innen kommt. Sie entströmt dem Zimmer, seinen blassen Wänden, seinen geschwärzten, modrigen Balken …
    Er

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