Verflucht seist du: Kommissar Dühnforts fünfter Fall (German Edition)
erste Mal, dass Mika mit dem Tod konfrontiert wurde? Während er für ihn so selbstverständlich geworden war. Beinahe hatte er vergessen, wie sehr er erschüttern konnte, alles in Frage stellte. Und doch hatte es auch für ihn ein unfassbares erstes Mal gegeben, als sein Großvater gestorben war. Sieben Jahre alt war er gewesen und der Tod bis dahin etwas Abstraktes, Unvorstellbares, jenseits seiner Erfahrung und deshalb nicht fassbar. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er sich von seinem Opa verabschiedete. Der Tod gehört zum Leben, man darf ihn nicht verstecken. Anfang und Ende. So ist das. Das musst du zu akzeptieren lernen. Es ist normal. Man muss sich nicht davor fürchten. Seine Mutter hatte ihn gelehrt, nicht wegzublicken, die Dinge beim Namen zu nennen, anzunehmen, und dafür war er ihr dankbar. Und dabei fiel ihm nun ein, dass er sie hatte zurückrufen wollen. Georges war krank. Sie wollten nach München kommen und brauchten vielleicht Hilfe oder wenigstens Beistand. Er wählte ihre Nummer und hatte Glück. Er erreichte sie und freute sich, ihre leichtfüßige Stimme zu hören. Jederzeit klang sie so, als bestünde das Leben aus einer endlosen Abfolge von Tänzen, leicht beschwingt, gelegentlich anstrengend, aber alles in allem nicht allzu ernst zu nehmen. Immer ein Lächeln auf den Lippen und Heiterkeit im Tonfall. »Georges geht es gut. Die Prostata macht ein wenig Probleme. Das ist normal in seinem Alter.« Das beruhigte Dühnfort. »Er hält viel von deutschen Ärzten, und wir wollten ohnehin nach München, um eine Ausstellung vorzubereiten. Mein neuer Galerist ist da.«
»Was ist mit Samuel?«
»Ach, wir haben uns gezankt. Da habe ich mich von ihm getrennt.« Beinahe sah Dühnfort die leichte Handbewegung, mit der seine Mutter dieses Thema hinter sich ließ.
Sie plauderte weiter und erklärte, dass sie bereits eine möblierte Wohnung im Glockenbachviertel gemietet hatte, ganz in seiner Nähe. Er freute sich darauf, sie zu sehen, und war erleichtert, als er das Gespräch schließlich beendete. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Mikas Facebook-Seite war noch geöffnet. Er überflog die Einträge und ging dann auf die Trauerwebseite, die sie und Lukas für Isa eingerichtet hatten. Dort sah er zum ersten Mal ein Foto von Isa. Trotz ihres erheblichen Übergewichts war sie hübsch gewesen. Diese blauen Augen. Der feine Teint. Ein breites und offenes Lachen. In den Augen funkelte Schalk. Halb Kobold, halb Puppe. Mika hatte Gedichte und Zeilen aus Songs ebenso eingestellt wie ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Isa. Dühnfort überflog sie, und ihm gefiel, dass Mika diese Zeit nicht verherrlichte und verklärte. Sie schrieb auch von Streit und Missverständnissen, von Eifersüchteleien und Neid, wie er unter Teenagern üblich war.
Dühnfort wechselte zurück auf Facebook. Isas Seite war nur für Freunde zugänglich. Doch die von Sascha konnte jeder sehen. Sein letzter Eintrag stammte von Isas Todestag. Das Foto, das er heimlich von ihr gemacht hatte, war noch online. Man erkannte sie nicht. Man sah nur ein dickes Mädchen, das vor einem Kaufhaus stand. Das Gegenlicht der Schaufensterbeleuchtung reduzierte sie auf eine unförmige schwarze Kontur.
32
Mika steuerte auf Isas Grab zu. Es lag etwas abseits am Rand eines Gräberfelds unter einem alten Baum. Dort saß eine schwarze Gestalt im Schatten. Lukas war bereits da. Er hatte den iPod samt Minilautsprechern aufgebaut, um Isa den Song vorzuspielen, den er für sie komponiert und geschrieben hatte. Mika hatte nur wenig dazu beigetragen, denn er war schon beinahe perfekt gewesen. Mit ihrer Stimme allerdings hatte sie diesen Worten Ausdruck verliehen und war dabei immer wieder in Tränen ausgebrochen. Lukas war es gelungen, all das, was Isa ausgemacht hatte, zu erfassen, auf den Punkt zu bringen. Ihre Warmherzigkeit und gelegentliche Zickigkeit, ihren Schalk und ihre Empfindsamkeit. Der unendliche Humor, mit dem sie alles nahm, nur Saschas Attacke nicht. Die tiefe Verletzlichkeit, die sich dahinter verbarg, und am Ende hatte niemand gesehen, wie tief Sascha Isa getroffen hatte. Wie denn auch? Es war alles so schnell gegangen. Isa hatte nicht um Hilfe gerufen. Warum nicht? Wir waren doch Freundinnen. Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich hätte dich davon abgehalten! Ich bin so sauer auf dich, so wütend! Warum tust du mir das an, lässt mich allein mit all diesen Fragen. Und deine Eltern und deine Freunde. Du warst nicht allein!
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