Verfluchte Seelen
integrieren. Die anderen Unsterblichen hatten sich ihm von jeher untergeordnet und folgten widerspruchslos seinen Befehlen. Er war der Älteste und hatte am meisten Erfahrung mit den Herausforderungen, mit denen die Unsterblichen und die
Begabten
zu kämpfen hatten. Außerdem war er der Mächtigste unter ihnen und konnte es mühelos mit jedem von ihnen aufnehmen. Auch mit zweien, dreien oder einem ganzen Dutzend gleichzeitig. Allerdings hatte Melanie gehört, dass es schon seit Jahrhunderten eine Wette dazu gab, wer von ihnen bei einem Kampf gewinnen würde – Seth oder David.
Sie bezweifelte, dass es jemals dazu kommen würde – es war allgemein bekannt, dass sich die beiden niemals stritten.
»Gibt es ein Problem?«, bohrte Richart weiter. »Hat mal wieder jemand deine empfindlichen Gefühle verletzt?«
Bastien schwieg hartnäckig.
»Schmollst du, weil Seth dir jetzt schon
zwei
Babysitter aufdrückt?«
Nichts.
»Aber vielleicht hat das Gerangel mit deinem Vampirfreund ja auch deine Stimmbänder ruiniert.«
»Vielleicht bin ich auch einfach nur erschöpft von dem
Gerangel
mit deiner Freundin«, knurrte Bastien.
Blitzschnell riss Richart den Kopf zu ihm herum. Seine Augen fingen an, bernsteinfarben zu leuchten, unwillkürlich spannte er die Muskeln an.
»Was glaubt ihr, wer bei einem Kampf gewinnen würde? Seth oder David?«, platzte Melanie heraus. Sie saßen so nah nebeneinander, dass sich ihre Arme berührten, und sie wollte wirklich nicht zwischen ihnen eingeklemmt sein, wenn sie übereinander herfielen.
Richart musterte sie stirnrunzelnd. »Was?«
»Wer würde gewinnen, was glaubt ihr? Seth oder David? Ich überlege, ob ich etwas Geld auf einen von beiden setzen soll.« Das hatte sie zwar nicht vor, aber wen interessierte das schon? Ihr Einwurf schien Richart tatsächlich abzulenken.
»Seth«, erwiderte Bastien.
»Warum?«, wollte Melanie wissen.
»Weil ich einmal erlebt habe, wie er die Geduld verloren hat.«
Das durchdringende Leuchten in Richarts Augen wurde schwächer, bis sie wieder braun waren. »Tatsächlich?«
Bastien nickte, ohne den Blick vom Campusgelände abzuwenden. Nach wie vor rührte sich nichts.
»Was ist passiert? Was hat ihn so wütend gemacht?«, wollte Melanie wissen. Noch nie war ihr zu Ohren gekommen, dass der Anführer der Unsterblichen Wächter die Kontrolle verloren hatte.
»Ich habe Ami angegriffen.«
»Merde!«
»Wie bitte?«
Aus dem Augenwinkel warf Bastien Melanie einen Blick zu. »Es war ein Versehen.«
Richart schnaubte. »Als ob es möglich wäre, jemanden
versehentlich
anzugreifen.«
»Ich hielt sie für eine Unsterbliche, die sich von hinten an mich heranpirscht, und habe einfach nur … reagiert.«
Es überraschte Melanie, dass sich Bastien zu einer Erklärung herabließ. Lag es daran, dass sie dabei war? »Also, was ist passiert?«, fragte sie.
»Seth ist durchgedreht und …«
»Und was?«, hakte Richart nach.
Bastien schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst, dass das ganze Schloss über uns zusammenstürzt. So eine Machtdemonstration habe ich noch nie gesehen. Und die Sache ist die … ich glaube tatsächlich, dass er sich zusammengerissen hat. Ich glaube, dass das nur ein winziger Hinweis auf das war, wozu er tatsächlich in der Lage ist.«
Richart brummte etwas Unverständliches auf Französisch.
»In dieser Nacht habe ich wirklich geglaubt, dass er mich umbringen würde«, fuhr Bastien fort. »Ich weiß immer noch nicht, warum er es nicht getan hat.«
Melanie sah Richart an. Er wirkte ziemlich beeindruckt.
»Und du hast nie erlebt, dass Seth die Geduld verloren hat?«, fragte sie.
»Nein. Nie.«
Bastien schnaubte belustigt. »Glaub mir, das willst du gar nicht erleben.«
Wieder senkte sich Schweigen über sie.
Vor Kälte schwang Melanie die Beine hin und her und schlug die Hacken ihrer Kampfstiefel zusammen. Bevor sie das Netzwerk verlassen hatte, hatte sie die Jagdkluft angelegt, die üblicherweise von den Sekundanten getragen wurde: schwarze Cargohose, schwarzes, langärmeliges Shirt und als Zugeständnis an die niedrigen Temperaturen einen schwarzen Pulli. In ihren Schulterholstern steckten zwei Neun-Millimeter-Waffen, und an ihren Oberschenkeln hatte sie ihre Messer befestigt.
Darüber trug sie einen langen dunklen Mantel, der sie vor der Winterluft schützen sollte. Dennoch wurden ihre Finger vom eisigen Wind ganz steif; hier oben auf dem Dach war es kälter als auf der Straße. Wenn sie nicht gefürchtet hätte, die beiden
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