Verführer der Nacht
sich kam und unter ihren Lidern hervorspähte. »Was ist los, Schätzchen, geht es dir nicht gut?« Ihr Blick wanderte an Ginny vorbei und fiel auf Paul, der an der Wand lehnte und sie beobachtete. »Was ist denn los?«, fragte sie wieder.
»Dein Wecker hat so lange geklingelt, dass ich geguckt habe, was los ist, und dann konnte ich dich nicht wach kriegen«, sagte Ginny weinerlich. »Ich habe dich geschüttelt und geschüttelt.«
»Sie hat mich aufgeweckt.« Paul klang vorwurfsvoll, aber auch in seiner Stimme lag Angst.
Colby zwang sich, sich aufzusetzen und die Haarmähne zurückzustreichen, die um ihr Gesicht wogte. »Tut mir leid. Ich war wohl müder, als ich gedacht hatte. Ich habe den Wecker auf halb fünf gestellt, weil ich noch ein paar Sachen erledigen wollte.«
Ginny stürzte sich sofort auf diese Information. »Ich habe gewusst, dass du so früh aufstehst!«, rief sie. »Das kannst du nicht dauernd machen, Colby. Du brauchst Schlaf, genau wie wir alle.«
»Ich brauche Schlaf«, verbesserte Paul. »Wenn wir schon beim Thema sind – ich geh wieder ins Bett. Colby, wenn Ginny so lange gebraucht hat, um dich zu wecken, glaubst du nicht, das heißt, dass du noch nicht aufstehen solltest?« Er klang sehr erwachsen.
»Wahrscheinlich«, gab Colby zu, die am liebsten wieder unter die Bettdecke gekrochen wäre. Ihr Körper fühlte sich schwer und unbeweglich an, und ihr fielen immer wieder die Augen zu. Sie war so durstig, dass ihr Mund sich völlig ausgetrocknet anfühlte. Ein leicht metallischer Geschmack haftete auf ihrer Zunge. »Allmählich glaube ich, dass ich die totale Spinnerin bin, für die mich die Chevez-Familie und die De La Cruz-Brüder halten.« Geistesabwesend legte sie ihre Hand an die pochende Pulsader an ihrem Hals.
»Tja, das bist du«, gab Paul seine brüderliche Einschätzung kund.
»Wegen dieser freundlichen Bemerkung darfst du sämtliche Pferde füttern, während ich Domino trainiere. Er wird zu widerspenstig, wenn ich ihn nicht jeden Tag reite. Ich muss die Zäune überprüfen, und wenn du das Füttern übernimmst, bleibt mir ein bisschen mehr Zeit.« Sie gähnte ausgiebig.
Paul sah sie finster an. »Du solltest dir diesen Gaul vom Hals schaffen. Er ist echt gefährlich. Das hat sogar Joe Vargas gesagt. Alle sagen das.«
Ginny packte ihre Schwester an der Hand. »Stimmt das, Colby? Ist Domino gefährlich? Ist er ein Killer, wie alle behaupten?«
Colbys Kopf fuhr hoch, und ihre grünen Augen, die auf einmal ganz und gar nicht mehr schlaftrunken aussahen, funkelten ihren jüngeren Bruder an. »Hast du ihr das erzählt?«
Paul hatte den Anstand, ein beschämtes Gesicht zu machen. »Von Joe weiß ich, dass Domino einen Mann getötet hat, und Ginny hat das Gespräch mit angehört. Du kennst doch Joe, er hat eine Schwäche für dich. Er sorgt sich um dich.«
»Domino ist von seinem Vorbesitzer schlecht behandelt worden, Ginny«, erklärte Colby ruhig. »Man kann die Narben noch sehen. In gewissen Situationen kann er schwierig werden, aber ich werde schon mit ihm fertig. Wirklich. Ich überschätze meine Fähigkeiten nicht.«
»Tut mir leid, Colby«, entschuldigte Paul sich. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Ginny das mitkriegt.«
»Ich bin kein Baby.« Ginny warf ihr blauschwarzes Haar zurück und streckte ihr Kinn vor, wodurch sie ihrer älteren Schwester auf einmal sehr ähnlich sah. »Ihr braucht nichts vor mir zu verheimlichen. Und dumm bin ich auch nicht, Paul Chevez. Jedes Pferd kann gefährlich werden, wenn man nichts von Pferden versteht. Colby weiß, was sie tut«, sagte sie standhaft. »Niemand macht diese Arbeit besser als sie.«
»Hier spricht die Stimme der Unvoreingenommenheit.« Colby lachte leise und zerstrubbelte liebevoll Ginnys Haar. »Wenn du später Zeit hast, Schätzchen, kannst du damit anfangen, auf der Nordkoppel alles für das Barrel Racing vorzubereiten. Janna Wilson bringt am Donnerstag ihr Pferd Roman her. Er ist ein bisschen schlapp, und das kann sie sich nicht leisten, wenn Regina ihr in dem Kampf um den ersten Preis ständig im Nacken sitzt. Dieses Jahr will Janna die Weltmeisterschaft gewinnen.«
»Na klar.« Ginny war sehr aufgeregt. Janna Wilson, die aus Oklahoma stammte, lag in dieser Saison bei der Meisterschaft im Barrel Racing vorn und war Ginnys unangefochtenes Idol. Ginny war fest entschlossen, in nicht allzu ferner Zukunft selbst professionell Barrel Racing zu betreiben.
»Geht wieder zu Bett, ihr zwei«, empfahl Colby ihren
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