Verführer der Nacht
andere zu stellen, auch über sein eigenes Wohl. Allmählich begriff er, was das bedeutete. Es war ein hoher Preis, den er für seine Unsterblichkeit zahlen musste: Rafael harrte wie ein Gefangener unter der Erde aus und wartete; er konnte nichts anderes tun, sosehr er es sich auch wünschte. In diesem Augenblick kam es ihm mehr darauf an, Colby zu trösten, als sie für sich zu beanspruchen. Er brauchte es, sie sicher und geborgen in seinen Armen zu halten. Während der Zeit, die er in der Erde verbrachte, lernte er von seiner ahnungslosen Gefährtin des Lebens einige bittere Lektionen. Sie sprach sanft und liebevoll mit ihren Geschwistern, mit einer Stimme, in der ungeheure Zuversicht lag, obwohl Rafael hören konnte, dass sie tief in ihrem Inneren vor Angst und Entsetzen schrie. Sie nahm sich Zeit für jeden der beiden, beantwortete Fragen und beruhigte sie, und das mit einer unendlichen Geduld, obwohl sie wusste, dass eine lange Liste von Pflichten vor ihr lag, die trotz der Tragödie erledigt werden mussten. Noch dazu fragte sie sich ständig, ob sie Petes Leben irgendwie hätte retten können, wenn sie ihn früher gefunden hätte.
Colby arbeitete hart und nahm sich jede Aufgabe mit derselben Sorgfalt vor, ob sie nun leicht war oder schwer, ob sie die Arbeit hasste oder gern verrichtete. Sie war schnell und tüchtig und plante voraus, während sie im Geist die Liste abhakte. Für Rafael waren es die längsten und schwierigsten Stunden seines Lebens. Er lag hilflos gefangen in der Erde, sein Körper geschwächt, seine ungeheure Kraft erschöpft, während Colby, müde vom Schlafmangel und dem Blutverlust, irgendwo da oben den ganzen Nachmittag hindurch schuftete.
Sie musste ihre speziellen Fälligkeiten einsetzen, um den alten Traktor zu starten und in Gang zu halten, während sie auf einem der Felder arbeitete. Es war anstrengend, geistige Kräfte zu benutzen, um die Geräte laufen zu lassen, und ihr Kopf hämmerte, als sie vom Feld zu der Koppel voller unruhiger Pferde ging. Ihr Bruder kam zu ihr, um ihr dabei zu helfen, die wild herumtobenden Tiere im Zaum zu halten.
Rafaels Stimmung schwankte zwischen uneingeschränkter Bewunderung für Colby und schwelendem Zorn. Sie war eine junge, verletzliche Frau. Warum war sie allein und schutzlos? Weshalb verrichtete sie eine Arbeit, die ihr körperlich wie geistig so viel abverlangte? Jedes Mal, wenn sie abgeworfen wurde, spürte er den Sturz bis in die Knochen. Sie spürte jede Erschütterung, wenn sie an die Umzäunung krachte. Was sie machte, war gefährlich. Unglaublich gefährlich. Das musste aufhören. Er würde ihr nicht erlauben, so weiterzumachen, wenn er ihr das Leben ungemein erleichtern konnte. Ungeduldig wartete er darauf, dass endlich die Sonne unterging.
Colby war über jede Erschöpfung hinaus, als sie im schwindenden Licht durch die Scheune taumelte und mit grimmiger Miene Sättel und Zaumzeug betrachtete. Die meisten der Sachen mussten gereinigt oder repariert werden. Das war ursprünglich Pauls Aufgabe gewesen, aber anscheinend hatte er sie irgendwann an Ginny weitergegeben und längst vergessen. Irgendjemand musste sich auch darum kümmern, oder es ging mit den Sachen bald ebenso bergab wie mit allem anderen auf der Ranch.
»Bergab«, murmelte sie laut und lehnte sich mit der Hüfte an die Tür. »Und zwar rapide.« Die gesamte Ranch ging rapide den Bach hinunter, und all die Arbeit wuchs ihr allmählich über den Kopf. Sie war nur eine Person und hatte für alles nur eine begrenzte Zeit. Colby war den ganzen Tag über nicht hungrig gewesen und hatte die Mahlzeiten ausgelassen, um die Stunden wieder aufzuholen, die sie bei Petes Leichnam verbracht hatte. Sie schien schrecklich durstig zu sein, aber Hunger hatte sie überhaupt nicht, und bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel.
Einen Moment lang lauschte sie dem Klang junger, fröhlicher Stimmen draußen auf der Veranda. Sie war versucht, ihren Geschwistern zuzurufen, sie sollten ihr helfen, aber sie klangen so jung und unschuldig, dass sie es nicht übers Herz brachte. Heute war für sie alle ein schrecklicher Tag gewesen. Die Kinder trauerten um Pete, und wenn sie ein paar Augenblicke miteinander lachen konnten, würde sie ihnen dieses harmlose Vergnügen nicht nehmen. Der Gedanke an Petes Tod ließ Colby nicht los und nagte ständig an ihr, und sie musste den plötzlichen überwältigenden Drang unterdrücken, zu ihren Geschwistern zu laufen und sich einen Moment lang, so kurz er auch sein
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