Verführt von einer Lady
schüttelte den Kopf und blickte hinaus auf den Horizont, wo die Sonne eben im Meer versunken war. „Was für ein Durcheinander.“
„Das dürfte die Untertreibung des Jahres sein.“
„Was für ein Knoten?“, schlug sie vor und kam sich sehr seemännisch dabei vor.
Er stieß ein leises, amüsiertes Schnauben aus und stand dann auf. Sie sah auf; er verdeckte die letzten Sonnenstrahlen. Eigentlich füllte er ihr gesamtes Gesichtsfeld aus.
„Wir hätten Freunde sein können“, hörte sie sich sagen.
„Hätten?“
„Wir wären Freunde geworden“, korrigierte sie sich lächelnd. Es war wirklich erstaunlich. Welchen Grund hatte sie zu lächeln? „Ich glaube, wir wären Freunde geworden“, wiederholte sie, „wenn nicht … wenn all das …“
„Wenn alles anders gekommen wäre?“
„Ja. Nein. Nicht alles. Nur ein paar Dinge.“ Plötzlich wurde ihr leichter ums Herz. Und sie hatte keine Ahnung, warum. „Vielleicht, wenn wir uns in London begegnet wären.“
„Und wir nicht verlobt gewesen wären?“
Sie nickte. „Und wenn Sie kein Herzog gewesen wären.“
Er hob die Brauen.
„Herzöge haben etwas sehr Einschüchterndes an sich“, erklärte sie. „Alles wäre viel leichter gewesen, wenn Sie keiner gewesen wären.“
„Und Ihre Mutter nicht mit meinem Onkel verlobt gewesen wäre“, ergänzte er.
„Wenn wir uns einfach nur begegnet wären.“
„Ohne Vorgeschichte.“
„Genau.“
Er lächelte. „Wenn ich Sie auf der anderen Seite eines überfüllten Saales gesehen hätte?“
„Nein, nein, nichts dergleichen.“ Sie schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Sie redete nicht von romantischer Liebe. Sie ertrug nicht einmal den Gedanken daran. Aber eine Freundschaft … das war etwas ganz anderes. „Ich meine etwas viel Einfacheres“, sagte sie. „Wenn Sie neben mir auf einer Bank gesessen hätten.“
„So wie hier?“
„Vielleicht in einem Park.“
„Oder einem Garten“, murmelte er.
„Sie hätten sich einfach neben mich gesetzt …“
„Und Sie gefragt, was Sie von der Mercator-Projektion halten.“
Sie lachte. „Ich hätte gesagt, dass sie fürs Navigieren sehr nützlich ist, aber die Größenverhältnisse schrecklich verzerrt.“
„Und ich hätte gedacht – wie nett, eine Frau, die ihre Intelligenz nicht versteckt.“
„Und ich hätte gedacht – wie herrlich, ein Mann, der nicht annimmt, ich hätte keine.“
Er lächelte. „Wir wären Freunde geworden.“
„Ja.“ Sie schloss die Augen. Nur einen Moment. Nicht lange genug, um sich das Träumen zu erlauben. „Ja, das wären wir.“
Er schwieg einen Augenblick, bevor er ihre Hand ergriff und sie küsste. „Sie werden eine wunderbare Herzogin abgeben“, sagte er leise.
Sie versuchte zu lächeln, aber es fiel ihr schwer; der Kloß in ihrer Kehle war im Weg.
Und dann sagte er leise, aber nicht so leise, dass sie es nicht hätte hören können: „Ich bedaure nur, dass Sie nie meine geworden sind.“
16. KAPITEL
Tags darauf, im „Queen’s Arms“ in Dublin
„Was meinen Sie“, murmelte Thomas und beugte sich herab, um Amelia direkt ins Ohr zu flüstern, „ob es vom Hafen in Dublin wohl direkte Schiffsverbindungen zu den Äußeren Hebriden gibt?“
Sie gab einen erstickten Laut von sich und sah ihn dann äußerst streng an, was ihn sehr amüsierte. Mit dem Rest ihrer Reisegesellschaft standen sie im Salon des „Queen’s Arms“, wo Thomas’ Sekretär Zimmer für diese Nacht gebucht hatte. Erst am nächsten Tag würden sie sich auf den Weg nach Butlersbridge machen, dem kleinen Dorf im County Cavan, in dem Jack Audley aufgewachsen war. Den Hafen von Dublin hatten sie zwar bereits am späten Nachmittag erreicht, doch bis sie ihre Habseligkeiten eingesammelt und sich in die Stadt begeben hatten, war es längst dunkel geworden. Thomas war müde und hungrig, und er war sich ziemlich sicher, dass es Amelia, ihrem Vater, Grace und Jack genauso ging.
Seine Großmutter jedoch wollte davon nichts wissen.
„Es ist nicht zu spät!“, beharrte sie, und ihre schrille Stimme drang in jeden Winkel des Raums. Ihr Wutausbruch dauerte schon eine ganze Weile, und so war Thomas sich sicher, dass die ganze Nachbarschaft inzwischen mitbekommen hatte, dass sie diesen Abend noch nach Butlersbridge weiterzureisen gedachte.
„Madam“, sagte Grace auf ihre beruhigende Art, „es ist schon nach sieben. Wir sind alle müde und hungrig, die Straßen sind dunkel, und wir kennen uns hier nicht
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