Verfuehrung
auf die Idee, auch mit ihr nach Bologna gehen zu wollen.
»Ich glaube nicht«, sagte sie sachte, »dass Liebe ein Kuchen ist, bei dem man Stücke austeilt, bis am Ende nichts mehr da ist, und es jemanden gibt, auf den man eifersüchtig sein müsste, weil er das größte Stück bekommt. Ich glaube, Liebe ist mehr wie ein Fluss. Wenn man Wasser herausholt, kommt mehr davon nach, weil verschiedene Bäche hineinfließen.«
»Es gibt so etwas wie Staudämme, weißt du«, gab Petronio zurück, aber er klang nicht mehr bedrückt und mehr wie ihr Bruder, der mit ihr Neckereien austauschte.
»Mein Vater hat für die Universität von Bologna gearbeitet«, sagte Calori, ohne nachzudenken, »und er hat mir einmal gesagt, dass unsere Herzen Muskeln sind, die sich ausdehnen können. Nur, damit du das weißt.«
Petronios Finger in den ihren hielten inne.
»Das ist das erste Mal, dass du mir etwas von deiner – von deiner anderen Familie erzählst«, sagte er nachdenklich.
»Ich habe mich lange bemüht, sie zu vergessen«, erwiderte sie und spürte einen Kloß in ihrer Kehle. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, wie sie ihre Mutter wohl vorfinden würde, glücklich oder im Unglück. Sie überhaupt nicht vorzufinden schloss Calori aus.
»Gehst du auch deswegen nach Bologna?«, fragte er, als könne er ihre Gedanken hören, und sie nickte. Petronio lehnte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn.
»Komm wieder«, sagte er, löste seine Hand aus der ihren, und er machte einen beruhigten Eindruck, obwohl ihn ihre Versicherungen früher nie so schnell überzeugt hatten.
Calori entschied, dass Männer manchmal wirklich unbegreiflich waren und sie am Ende gut beraten war, nicht länger zu versuchen, einer von ihnen zu sein.
* * *
Lucia hatte seit Jahren nicht mehr an ihren ersten Gatten gedacht; nicht mehr an ihre Tochter zu denken war schwieriger, doch es gelang ihr zumeist, was ihr lieb war. Es gab Dinge, die man besser tief in sich begrub, und so war ihr erster Impuls, als sie in den Salon gerufen wurde und eine vertraut aussehende junge Frau vor sich sah, auf der Stelle kehrtzumachen. Aber das stand ihr nicht zu. Also blieb sie stehen und wünschte aus ganzem Herzen, die junge Frau möge statt ihrer gehen. Die junge Frau, die Angiolas lockiges schwarzes Haar hatte und ihre Nase, aber ansonsten die Eleganz und Figur einer Erwachsenen statt der ungelenken, ein wenig unbeholfenen Grazie eines heranwachsenden Mädchens.
»Meine Liebe«, sagte ihr Herr, »schauen Sie, wer uns besuchen kommt. Damit haben wir bei Gott nicht mehr gerechnet, nicht wahr?«
»Nein, gewiss nicht«, sagte Lucia sofort, weil sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Falier war so zornig gewesen in den ersten Wochen nach Angiolas Verschwinden. So überaus zornig. Und noch mehr, als sie ihm eine weitere Überraschung gestehen musste. Aber dann hatte er ihr sein Angebot gemacht. Er war großzügig gewesen, und sie durfte nie vergessen, wie viel Glück sie gehabt hatte.
»Mutter«, sagte die junge Frau zögernd, und ihre Stimme war ein wenig tiefer, voller, als die Stimme, an die Lucia sich erinnerte, »wie geht es Ihnen?«
Lucia schaute zu Falier.
»Nur zu«, sagte er.
»Mir geht es gut«, sagte Lucia. »Ich bin sehr glücklich, Professore Falier dienen zu dürfen. Unendlich glücklich.«
Falten bildeten sich auf der Stirn der jungen Frau.
»Dienen?«, wiederholte sie in einem ungläubigen Tonfall, und oh, so hatte ihr Vater gesprochen, wenn er sich ärgerte, weil die Universität schon wieder sein Gehalt nicht erhöhen wollte oder der Erbonkel in Venedig ihn doch nicht in sein Testament eingesetzt hatte.
»Don Silvio«, sagte Lucia, »war so gütig, mich zu seiner Haushälterin zu machen und mir ein Dach über dem Kopf zu geben. Mehr als gütig, bei einer Frau mit meinem beschädigten Ruf.«
Falier schlenderte zu ihr und ließ in alter Vertrautheit seine Finger über ihren Nacken wandern.
»Es war mir eine Freude«, sagte er zu der jungen Frau, die einmal ihre Tochter gewesen war, »und für Signora Falier eine wichtige Hilfe.«
»Für Signora Falier?«
»Sie wiederholen sich wohl gerne, Signorina Calori? Ich habe bald geheiratet, nachdem Sie Bologna verlassen haben. Ein junges Mädchen von untadeligem Ruf, das in seinem zarten Alter die helfende Hand einer erfahrenen Haushälterin gut gebrauchen konnte.« Sehr überheblich fügte er hinzu: »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen meine Gattin nicht vorstelle, aber meine Gattin ist eine Frau von Ehre.
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