Verfuehrung
weil sich Appianinos Tod nicht mehr ständig dazwischendrängte. Wie aufgeregt war sie damals gewesen, gleichzeitig voll Sehnsucht und Furcht; wie gewiss, noch kein anderer Mensch könne je so empfunden haben. So jung, hörte sie Appianinos geliebte Stimme sagen, und mit einem Mal erfasste sie Zorn, auf ihn und auf das Schicksal. Warum hatte er sterben müssen! Warum hatte er ihr erst gezeigt, was es bedeutete, zu lieben, sich hinzugeben, selbst zu begehren, und sie dann alleingelassen! Noch ehe er starb, hatte er sie verlassen, hatte sie erst zu einem Ebenbild seiner selbst gemacht und sie dann in einer Welt zurückgelassen, in der es gar niemanden mehr geben konnte, der sie so liebte, wie er es getan hatte. Es war, als hätte er sie in einen Turm gesperrt und den Schlüssel fortgeworfen.
Das waren verbotene Gedanken, und sie schämte sich. Aber in dieser Nacht ließen sie sich nicht verdrängen. Es war, als geisterten all die erinnerten Liebkosungen von einst über ihren Körper, und es dauerte noch lange, bis sie endlich einschlafen konnte.
Am nächsten Morgen trug sie ihre hellblaue Weste und die dunkelblauen Hosen, was immer noch angemessen zur Fastenzeit schien, und band sich das Haar zurück, ohne Pomade zu benutzen. Er brauchte nicht den Eindruck zu bekommen, dass sie Wert darauf legte, ihm zu gefallen. Petronio, dessen Haar nur so glänzte, zog sie am Zopf.
»Der Junge vom Lande, wie? Na ja, es gibt auch Männer, die darauf aus sind …«
»Willst du eine Stelle oder nicht?«, fragte sie und zwickte ihn in den Arm, damit er den Mund hielt. Sie klopfte, und als die Stimme Giacomo Casanovas »Herein!« rief, öffnete sie die Tür und schlenderte auf ihre männlichste Art und Weise hinein. Er war bereits angezogen, lag jedoch auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verkreuzt, und betrachtete sie erfreut.
»Guten Morgen, Signor Abbate.«
»Es ist ein mehr als guter Morgen, Bellino, wenn er Sie zu mir bringt.«
Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Petronio hinter ihrem Rücken feixte.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, werden Sie noch ein paar Tage bleiben, ehe Sie nach … war es Kairo? … weiterreisen«, sagte sie, obwohl sie genau wusste, welche Stadt er genannt hatte.
»Konstantinopel. Oh lass mich deine Rundungen liebkosen, mein liebster Bosporus, kennen Sie das Gedicht?«
Sie verneinte, und sein Lächeln vertiefte sich. »Kein Wunder. Ich habe es gerade erfunden.«
»Zum Dichter reicht es bei Ihnen leider nicht. Bleiben Sie Abbate«, gab sie zurück, ehe sie es sich versah, und hätte sich gleich danach am liebsten auf die Zunge gebissen. Schließlich wollte sie etwas von ihm.
»Dichtende Kleriker haben Tradition«, sagte er, immer noch, ohne die geringsten Anstalten zu machen, sich aus seinem Bett zu erheben, oder damit aufzuhören, seine Blicke an ihrem Körper auf und nieder wandern zu lassen. »Denken Sie an Kardinal Bembo, der seine schönsten Sonette für Lucrezia Borgia geschrieben hat. Oder an Abaelard und Héloise.«
Sie hatte von keinem dieser Leute je gehört. Bellinos Bildung stammte zum größeren Teil aus den Romanen, die Angiolas Mutter gelesen hatte, diversen Opernlibretti und dem, was sie von Appianino und Melani aufgeschnappt hatte. Sie hatte Appianino immer sehr beneidet, wenn er von dem erzählte, was er in Neapel neben der Musik noch alles aus den vielen Büchern, die er lesen konnte, gelernt hatte. »Du hast Anmut und einen natürlichen Verstand«, hatte dieser darauf zu ihr gesagt und hinzugefügt: »Der kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, wogegen keine Bildung je den natürlichen Verstand vertreten könnte, so wie viele Bücher nicht gute ersetzen.« Diese Aussage war ein wichtiger Baustein ihres Selbstvertrauens geworden. Außerdem hatte sie Übung darin, Wissenslücken mit Scherzen zu überspielen.
»Muss ich das? In der Fastenzeit? Da denkt man ohnehin schon zu viel an die Kirche und ihre Kleriker«, entgegnete sie mit gespieltem Bedauern, und er lachte.
»Da haben Sie recht, Bellino.«
Hinter ihr räusperte sich Petronio. »Signore Abbate«, sagte sie eilig und mit einem Hauch von Reue, weil sie sich hatte ablenken lassen, »ist es Ihnen möglich, meinen Bruder Petronio für die Dauer Ihres Aufenthalts als Ihren Lohndiener zu nehmen? Er ist flink und geschickt, und Sie brauchen nicht darauf zu warten, bis der Wirt jemanden für Sie findet.«
»Aber mit dem größten Vergnügen«, sagte er sofort und warf ihrem Bruder eine Münze
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