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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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irgendwann zu Bellino gesagt, sie solle ihrer Mutter ausrichten, dass man sie demnächst wegen Kuppelei belangen würde. Danach war Mama Lanti darauf verfallen, Bellino zu drängen, bei jedem Engagement in einer anderen Stadt die gesamte Familie mitzunehmen.
    Mama Lanti setzte sich auf. »Sprich mir nicht von beschützen«, sagte sie, und ihr Gesicht, das sonst immer gutmütig wirkte, war hart wie ein Fels. »Meine Mutter, die war eine Amme von Ammen. Weißt du, was das ist? Da gibt eine reiche Dame ihr Kind zu einer Amme. Die Amme hat nicht genug Milch für mehr als ein Kind, nicht, wenn sie will, dass es durchkommt und nicht zu der Hälfte aller Kinder gehört, die sterben, bevor sie das erste Jahr vollendet haben. Daher gibt sie ihr eigenes Kind weiter an eine noch ärmere, preisgünstigere Amme. Die hat aber schon fast gar keine eigene Milch mehr, weil sie selbst kaum noch Fleisch auf den Rippen hat, und deren eigene Kinder, die sterben ihr weg wie die Fliegen. Wenn sie das aber zugibt, dann bekommt sie überhaupt kein Geld mehr, um mit ihren Kindern zu überleben. Meine Mutter, die hat immer vier Kinder gleichzeitig angenommen, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht hatte. Und natürlich hat sie keine Milch für alle gehabt. Sie hat Brotkrumen in Suppe getunkt und die Kinder damit gefüttert, und wenn sie das Zeug wieder rausgespuckt haben, dann hat sie ihnen den Brei von den Lippen abgeputzt und mit dem Finger wieder reingesteckt, damit er unten blieb. Doch sie sind meist gestorben, die armen Würmer, einer nach dem anderen. Wieso ich nicht tot bin, das weiß ich bis heute nicht. Aber das weiß ich, dass ich meine Milch immer für meine Kinder behalten habe. Mein Beppo, der hat schon mal gefragt, ob wir nicht noch etwas mehr Geld verdienen wollen, wo ich doch immer die Brüste voll Milch hatte, aber ich habe gesagt, nein, meine Kinder, die werden ordentlich gefüttert. Ich geh mit den reichen Kerlen ins Bett, Beppo, das schon, aber meine Kinder, die behalte ich.«
    Angiola Calori hatte eine Amme gehabt. Ihr Vater hatte darauf bestanden, weil er schließlich Beamter an einer Universität war und es sich für seine Frau nicht gehörte, selbst zu stillen. Bellino konnte sich nicht mehr daran erinnern, was aus dem Kind der Amme geworden war, und mit jedem Wort von Mama Lanti stellte sie sich unwillkürlich vor, wie ihr Überleben ein anderes Kind das Leben gekostet hatte. Sie versuchte sich den massigen, selbstbewussten Berg von einer Frau neben sich als klapperdürres, halb verhungertes Kind vorzustellen, das seine Geschwister und viele der anderen Kinder sterben sah, und konnte es nicht, und doch erkannte sie, dass dieses Kind immer noch in Mama Lanti steckte und jede ihrer Handlungen bestimmte.
    »Natürlich beschütze ich meine Kinder!«, sprach Mama Lanti ruhig. »Sag mir, was soll aus ihnen sonst werden, ohne Mitgift? Bauernmägde? Dann holen sich die Herren und ihre Knechte ohnehin umsonst bei ihnen, was sie wollen, und dazu müssten die Mädchen siebzig Stunden in der Woche arbeiten und hätten Glück, wenn sie auch nur fünf Tage im Jahr frei bekommen. Für Stadtmägde ist es nicht anders, nur sind es da der Herr, der Haushofmeister und die älteren Lakaien, in dieser Reihenfolge, und der Lohn reicht kaum für ihr Überleben. Wenn sie selbst Kinder bekommen, dann sterben die Würmer wahrscheinlich sofort. Fortlaufen nützt einem dann auch nichts, denn dein bisschen Lohn bekommst du erst nach einem Jahr, aber das Lachen, das verlernst du schon nach einem Monat. Beschützen? Ich beschütze sie vor der Armut. Vor dem Verhungern! Das ist das Einzige, was zählt. Vor allem stirbt man nicht an der Sünde und hat oft genug sogar Spaß dabei. Das weißt du selbst.«
    Der Wirt brachte die gebratenen Kastanien, die der Venezianer für den Mittag bestellt hatte, gefolgt von Petronio mit einer Weinflasche, ihrem Gastgeber, Cecilia und Marina. Sofort wurde Mama Lantis Miene wieder weich. »Willkommen, Signore Abbate, willkommen!«
    »Ich dachte mir, Zypernwein passt am besten zu Maroni«, sagte der Venezianer. »Und der gute Wirt versicherte mir, dass beides in der Fastenzeit erlaubt ist.«
    »Als Abbate wissen Sie das nicht selbst?«, fragte Bellino mit gespielter Überraschung. Gerade jetzt konnte sie ein Wortgefecht gut gebrauchen, um sich von den Bildern abzulenken, die Mama Lanti heraufbeschworen hatte.
    »Ich fürchte, mein theologisches Urteil wird hier nie etwas gelten, nach der Art, wie ich mich eingeführt

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