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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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beherrscht wie Sie. Woher will ich eigentlich wissen, dass Sie keine Frau sind?«
    Damit war es ihr gelungen, ihn zu verblüffen. Einen Moment lang starrte er sie an, dann lachte er und bot ihr den Arm.
    »Ich würde erwidern, dass ich Ihnen das gerne bewiese, aber da Sie mir den Beweis des gleichen Umstands immer noch vorenthalten, werden wir es wohl vorerst bei einem Spaziergang bewenden lassen. Was halten Sie davon, wenn wir uns den Hafen anschauen?«
    Davon hielt sie sehr viel. Seereisen kamen für sie nicht in Frage. Bei Landreisen ihr Geheimnis zu wahren war eine Sache und wurde durch die Lantis erleichtert, auf einem Schiff ohne Fluchtmöglichkeit auf engem Raum unter Dutzenden Männern, die lange keine Frau gehabt hatten und bestimmt einen Kapaun mit Brüsten gerne als Ersatz genommen hätten, eine wesentlich gefährlichere. Zugleich faszinierte sie das Meer, seit sie es zum ersten Mal gesehen hatte, und manchmal stellte sie sich vor, wie es wäre, auf einem Schiff der Sonne entgegenzusegeln.
    »Können wir auch ein paar Schiffe besichtigen?«, fragte sie sofort.
    »Gerne«, sagte er und klang schon wieder leicht verblüfft, obwohl sie es diesmal gar nicht beabsichtigt hatte. Sie hakte sich bei ihm ein, wie man es unter Männern tat, statt ihre Hand auf seinen Unterarm zu legen, und stellte aus der Nähe fest, dass er sich ausgiebig gewaschen haben musste, da er nicht im mindesten nach Schweiß oder Cecilia roch. Zweifellos erfasste er die Bedeutung ihrer Geste, doch er bestand nicht darauf, sie als Frau zu führen.
    »Wann sind Sie zum ersten Mal mit einem Schiff gefahren? Nicht mit einer Gondel, mit einem richtigen Schiff.«
    »Das weiß ich nicht«, sagte der Venezianer. »Ich kann Ihnen meine früheste Erinnerung an eine Schifffahrt beschreiben, aber das ist nicht dasselbe. Ich habe nämlich keine Erinnerungen, die vor mein achtes oder neuntes Jahr zurückreichen, aber da meine Eltern immer wieder das Festland besuchten, gab es mit Sicherheit frühere Schifffahrten.«
    Wenn er die Wahrheit sprach, hatte er ihr damit auch erklärt, dass er keine Erinnerung an das Kind Angiola Calori hatte, und sie brauchte diese sehr kleine Sorge überhaupt nicht mehr zu hegen. Widersinnigerweise versetzte ihr das dennoch einen feinen, aber unleugbaren Stich.
    »Wirklich nicht? Das erscheint mir recht spät. Ich habe ein paar recht lebhafte Erinnerungen aus der Zeit, als ich fünf oder sechs war, und auch ein paar, die weiter zurückreichen, in mein drittes oder viertes Jahr hinein, obwohl ich mir bei manchen nicht sicher bin, ob sie echte Erinnerungen sind oder etwas, das mir meine Mutter oft genug erzählt hat.«
    »Ich war acht Jahre alt, als meine Großmutter mich zu einer Hexe nach Murano brachte, um mich vom Nasenbluten zu kurieren«, sagte er, ohne sie anzuschauen. »Da haben Sie meine erste Schifffahrt und meine erste Erinnerung, beides in einem. Vor dieser Angelegenheit muss ich ein ausgesprochen langweiliges Kind gewesen sein, ständig krank und sich weigernd, mit irgendjemandem zu sprechen. Kein Wunder, dass meine Eltern dachten, ich würde nicht überleben. Nach Murano änderte sich das alles, also könnte man mit Fug und Recht sagen, dass ich dem Meer und ein wenig der weiblichen Magie mein Leben verdanke.«
    Sie dachte an den Jungen im Theater, der ihr gar nicht kränklich vorgekommen war. Es wurde ihr erneut bewusst, dass sie an diesem Tag ihren Eltern gänzlich hätte verlorengehen können, wenn er sie nicht begleitet hätte. Ohne ihn wäre sie vielleicht am Ende der Vorstellung mit den Massen hinausgeschwemmt worden, unfähig, die Eltern wiederzufinden. Wenn sie in einen Kanal gefallen wäre, dann wäre sie ertrunken, da sie nun einmal nicht schwimmen konnte. Wenn nicht, dann wäre sie vermutlich ein Bettelkind geworden. Sie rief sich zur Ordnung. Ihre Phantasie war mal wieder dabei, mit ihr durchzugehen.
    Über jene Ereignisse konnte sie mit ihm ohnehin nicht sprechen. Stattdessen sagte sie mit einer Wärme, die dem Kind von damals galt: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie je langweilig gewesen sind, Giacomo.«
    »Nun, zu irgendetwas müssen die Jahre des Studiums in Padua nütze gewesen sein«, gab er zurück und wich einer Pfütze aus, in der sich durch den kalten Regen der letzten Tage viel Dreck und Wasser gesammelt hatte. Vielleicht galt sein Ausweichen weniger der Sorge um seine Schuhe als der Möglichkeit, ihr dadurch noch etwas näher zu kommen, während sie die Straße entlanggingen. »Aber

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