Verführung auf Burg Kells (German Edition)
wir am Gartentor waren. Dann haben wir gesehen, wie Master Hugh auf Tante Meg lag, und wir wollten sie nicht stören und haben uns davongeschlichen.“
„Ach Sam, mein Kleiner!“ flüsterte Ebony und furchte die Stirn. „Das kann Tante Meg nicht gewesen sein. Sie kann ihn nämlich nicht besonders gut leiden.“
„Gestern hat sie ihn aber leiden können. Es war wirklich Tante Meg, ich habe sie an ihren roten Schuhen erkannt. Und ich rede keinen Unsinn“, versicherte er ernsthaft. „Tom und Barney haben es auch gesehen.“
Ebony atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie sprechen konnte. „Hör mir gut zu, Sam. Das ist zum Beispiel eine Sache, über die du nicht reden sollst. Wir wissen oft nicht, warum Menschen etwas tun, deshalb reden wir nicht darüber, weil es uns nichts angeht. Ich erkläre dir das alles, so gut ich kann, aber es wäre Tante Meg gewiss unangenehm, wenn sie das Gefühl hätte, sie wird heimlich beobachtet, verstehst du? Ich kann dir nicht erklären, warum sie das getan hat, weil ich den Grund dafür nicht kenne. Also wollen wir nicht darüber sprechen, einverstanden?“
„Ja, Mama. Ich glaube nicht, dass Tom und Barney darüber reden. Sie sagen, sie haben schon oft gesehen, wie Männer und Frauen sich küssen.“ Er kletterte von der Fensterbank, denn sein Interesse an dem Thema hatte sich bereits erschöpft.
Nicht so allerdings Ebonys Interesse. „Und du stellst auch Master Hugh keine Fragen“, warnte sie.
„Nein, Mama. Ich frage keinen Soldaten des Königs. Sie haben mir gesagt, ich darf nicht darüber reden, was sie tun.“
„Freut mich, das zu hören, Schätzchen.“
„Darf ich jetzt in den Hof runter? Master Josh will mir zeigen, wie man ein Reh häutet.“
Ebony wünschte sich zwar, Master Josh würde ihren geliebten Sechsjährigen in erbaulicheren und kindgerechteren Dingen unterweisen, versagte sich aber ein Wort der Kritik und versuchte, Sams Begeisterung zu teilen, denn früher oder später würde ihm diese Fertigkeit von Nutzen sein. „Wird Biddie auch dabei sein?“ fragte sie.
„Ja“, rief Sam von der Tür her. „Sie ist immer dabei, wenn ich bei Master Josh bin. Sie mögen sich gern.“
Gütiger Himmel, dachte Ebony und hielt den Blick auf die Tür gerichtet, die ins Schloss gefallen war. Was in aller Welt geschieht hier seit einer Woche? Hatten alle unangebrachte Frühlingsgefühle?
Sie blieb noch eine Weile auf der Fensterbank sitzen und grübelte über Sams Worte nach, die nicht nur kindlicher Fantasie entsprungen sein konnten. Die drei Buben hatten sich nicht geirrt, denn Megs hübsche rote Schuhe sorgten bei allen Burgbewohnern für Gesprächsstoff, und außerdem war sie im Gemüsegarten gewesen, als Ebony den Weg entlanggestürmt war. Später hatte sie Tränenspuren in Megs Gesicht entdeckt und eine gewisse Zurückhaltung, und weiterhin war ihr aufgefallen, dass sie es vermieden hatte, Master Hugh direkt ins Gesicht zu sehen, statt ihn wie sonst streitlustig anzufunkeln. Aber sie hatte sich ihrer Schwägerin nicht anvertraut.
Und hätte sie, Ebony, ihrem Sohn nicht soeben eine Predigt gehalten über die Tugend, sich nicht in die Angelegenheiten anderer einzumischen, hätte sie unverzüglich heimliche Nachforschungen angestellt, besann sich aber eines Besseren. Wenn Meg den Wunsch hatte, ihr ein Geheimnis anzuvertrauen, würde sie es zu gegebener Zeit schon tun.
Am Morgen des nächsten Tages erhielt Ebonys Vermutung über Megs Herzensangelegenheiten neue Nahrung, diesmal aus erster Hand. Als die letzten Gäste aufbrachen, Pferdehufe über den gepflasterten Hof klapperten, gefolgt von Maultieren, beladen mit Weinfässern und erlegtem Wild, wusste niemand so recht, warum Jungfer Janet stille Tränen vergoss, und niemand wagte es, sie zu fragen, ob sie im Abschiedsschmerz oder aus Erleichterung weinte, in der Befürchtung einer unerwarteten Antwort. Megs besorgter Aufmerksamkeit entging nicht, dass Baron Cardale ohne ihr Einverständnis zwei von Sir Josephs Stuten mitnahm. Ebony hatte den Eindruck, Megs Empörung passe nicht zu ihrer sonstigen Gleichgültigkeit, was die Pferde ihres Vaters betraf, und vermutete, dass ihr die Zurechtweisung, an Master Hugh gerichtet, Genugtuung verschaffte. Sie war laut und schrill, und die Umstehenden drehten die Köpfe nach ihr um.
Master Hugh ließ die Beschimpfung anfänglich stoisch über sich ergehen, doch dann, als sei er ihre Tirade leid, nahm er sie plötzlich am Arm und zog sie ins Haus, ohne dass Meg den
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