Verfuehrung in Gold
Was umso mehr Grund war, den Brief nicht hier vor Publikum zu öffnen. Emma stand auf und ging zur Tür.
Sie fragte sich, ob Somerhart ihr folgen würde, und bei dem Gedanken lief sie schneller, empfand aber auch einen wohligen Schauer. Der Mann war eine veritable Plage!
Emma eilte um die Ecke der breiten vorderen Treppe und atmete die limonenparfümierte Luft tief ein. In ihrer Kindheit hatte es bei ihr zu Hause auch nach Limonenpolitur gerochen, bis ihre Mutter starb. Danach stank es vor allem nach Zigarrenqualm.
Das schlichte Siegel gab mit einem Knacken nach, und Emma erkannte die fahrige Schrift und unsichere Rechtschreibung auf den ersten Blick: Bess.
Ihr Puls beschleunigte sich und wurde zu einem Hämmern in ihren Schläfen, während sie die Nachricht entzifferte. Ein Dieb. Ein zerbrochenes Fenster. Nichts fehlt. Nichts fehlt. Demnach war dieser Dieb äußerst schlecht in seinem Metier. Oder er war überhaupt kein Dieb.
Matthew, zum Teufel mit dieser Pest von einem Mann! Er oder einer seiner Lakaien hatte nach einem Beweis gesucht, wer sie war.
Was sollte sie tun? Von hier aus konnte sie nichts ausrichten. Sie musste nach London zurück und versuchen, etwas gegen ihn zu unternehmen. Nur wie?
Ihr Herz hämmerte in ihrem Hals. Sie bräuchte nur noch wenige Wochen. Falls sie ihn bestechen oder ihn überzeugen konnte, dass sie nach Cheshire zurückkommen und über eine Heirat nachdenken würde …
Oder war es Zeit, aufzugeben? Falls sie verhaftet wurde, musste sie ihr gesamtes Geld für Bestechungen und einen Anwalt ausgeben. Aber sie hatte noch nicht genug beisammen. Was hätte es für einen Sinn, alles riskiert zu haben, wenn sie am Ende wieder dort stand, wo sie angefangen hatte? Tausend Pfund könnten ihr einige gute Jahre sichern, denn sie besaß keinerlei Fertigkeiten und kein Einkommen. Auf keinen Fall wollte sie von jemand anderem abhängig sein.
Sie brauchte das restliche Geld.
Emma faltete die Nachricht zusammen, schlich aus ihrer Ecke und huschte die Haupttreppe hinauf. Mr Jones würde ihr Geld einsammeln und es für sie verwahren, bis sie es holen konnte. Was das anging, vertraute sie ihm. Dennoch wusste sie, dass er, ungeachtet seiner Jugend und Freundlichkeit, genauso erbost reagieren würde wie alle anderen, sollte er die Wahrheit über sie erfahren. Auch er wäre empört, dass sie ihn getäuscht hatte, und würde wütend verlangen, dass sie bestraft wurde. Folglich plante sie, nicht einmal in der Nähe zu sein, wenn die Wahrheit ans Licht kam.
In einer Stunde konnte sie gepackt haben. Und danach würde sie bis zum Morgengrauen schlafen.
Kapitel 8
N ie zuvor hatte Emma in solcher Schärfe wahrgenommen, wie wankelmütig die Zeit war. Mal verging eine Minute bei einem Augenzwinkern, mal konnte sich eine Nacht zu einer Ewigkeit dehnen.
Nervosität und Angst nagten an ihr, während die Zeit stillzustehen schien. Emma fühlte sich zittrig, erschöpft und zugleich hellwach. Sie war nicht sicher, ob sie froh sein sollte, dass bald die Sonne aufging, oder wütend, weil sie nicht einmal mehr auf vier Stunden Schlaf hoffen durfte.
Sie wollte einfach, dass die Angst wegging. Angst nährte Zweifel, und Zweifel waren der schlimmste Feind des Spielers.
Gefangen in der Einsamkeit ihres Zimmers, wechselte Emma zwischen unruhigem Hin- und Herwälzen in ihrem Bett und Auf- und Ablaufen im Zimmer. Ihre Zweifel nahmen beständig zu.
Sie hätte London nicht verlassen dürfen. Sie hätte gar nicht erst nach London kommen dürfen. Was war, wenn sie alles verlor, einschließlich ihrer Freiheit? So viele Zweifel …
Emma schritt schneller auf und ab und wünschte sich inständig, sie könnte irgendetwas tun.
So viel Reue …
Vielleicht hätte sie in Cheshire bleiben und das Beste aus ihrer Situation machen sollen. Aber Matthew hatte sich geweigert, ihre Zurückweisung hinzunehmen. Er war immer aggressiver und aufdringlicher geworden. Und selbst Monate nach dem Tod ihres Onkels plagten Emma Schuldgefühle, wann immer sie an der verbrannten Ruine seines Hauses vorbeikam. Hätte sie sich in jener Nacht nicht fortgeschlichen, wäre sie dort gewesen, um ihn zu retten, als das Feuer ausbrach …
Emma rieb sich übers Gesicht und war nicht verwundert, dass ihre Wangen tränennass waren. Dabei war es nicht einmal der Tod ihres Onkels, den sie am meisten bedauerte. Bei Weitem nicht. Ihren Bruder hatte sie genauso im Stich gelassen. Was um ein Vielfaches entsetzlicher war. Sie hatte um die Gefahr gewusst, hatte
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