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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Psychologin. Tony hätte es von Anfang an begreifen müssen.
    Carol trank aus und setzte ihre Fahrt fort. Sie kam entsetzlich langsam voran. Niemand würde freitagabends die M1 runterfahren, wenn er nicht musste. Der Verkehr kam unvorhersehbar zum Stillstand, dann löste sich der Stau plötzlich auf, und alle gaben Vollgas, bis sie auf die nächste Verstopfung trafen. Die Gesichter der Fahrer im entgegenkommenden Scheinwerferlicht waren genervt, wütend oder gelangweilt. Niemand war glücklich darüber, hier zu sein.
    Carol hatte gerade die Abzweigung nach Nottingham passiert, als sie sich an ihren armen alten Kater Nelson erinnerte. Sie würde unmöglich noch heute Abend nach Haus zurückkehren können, und mit siebzehn Jahren war Nelson zu alt, um die Nacht ohne frisches Futter und Wasser zu überstehen. Normalerweise hätte sie Tony gebeten, sich um ihn zu kümmern. Aber im Moment wollte sie nie wieder mit Tony sprechen. In ihrer Schreibtischschublade lag ein Ersatzschlüssel, fiel ihr ein. Auf Paula konnte sie sich verlassen; sie würde bestimmt nicht herumschnüffeln, wenn sie in Carols Wohnung war. Vor langer Zeit einmal hätte sie das wahrscheinlich getan. Carol war ziemlich sicher, dass Paula lange in sie verliebt gewesen war. Aber ihre Beziehung mit Elinor hatte diese Gefühle gedämpft. Jetzt konnte Carol darauf vertrauen, dass sie nur die Katze füttern würde.
    Müde scrollte sie auf dem Computerbildschirm des Wagens bis zu Paulas Nummer und klickte sie an. Paula antwortete beim zweiten Klingeln. »Chefin«, sagte sie. »Es tut uns allen so furchtbar leid.« Es konnte keinen Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit geben.
    »Ich weiß«, sagte Carol. »Könntest du etwas für mich tun?«
    »Alles, was Sie wollen. Das gilt für uns alle. Wir tun alles, was wir können, um zu helfen.«
    »Ich schaffe es nicht mehr nach Haus heute Abend. In meiner Schreibtischschublade ist ein Schlüssel zu meiner Wohnung. Könntest du Nelson füttern?«
    Eine kurze Pause folgte. »Nur füttern?«
    »Futter und Wasser. Im Kühlschrank in einer Plastikbox ist gekochtes Huhn und Reis. Und Trockenfutter in einem Plastikeimer in der Abstellkammer.«
    »Carol …«, sagte Paula. Carol war verblüfft. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Paula sie je beim Vornamen genannt hatte.
    »Was?« Sie klang barscher, als sie beabsichtigt hatte. Aber sie glaubte, im Moment Freundlichkeit nicht ertragen zu können.
    »Es heißt, dass Vance Michael und Lucy getötet haben könnte.«
    »Das stimmt.«
    »Ich will nicht paranoid sein, aber … na ja, ich könnte Nelson mit zu uns nach Haus nehmen. Dann bräuchten Sie sich seinetwegen keine Sorgen zu machen.«
    Einen Moment konnte Carol gar nichts sagen. Es drückte ihr die Kehle zusammen, ihr kamen die Tränen. »Danke«, sagte sie und klang überhaupt nicht wie sie selbst.
    »Keine Ursache. Haben Sie einen Transportkorb?«
    »Im Schrank unter der Treppe. Es macht dir wirklich nichts aus?«
    »Ich bin froh, dass ich etwas tun kann, um zu helfen. Wenn Sie noch etwas brauchen, sagen Sie es ruhig. Das gilt für uns alle«, sagte Paula. »Sogar Sam.«
    Carol hätte fast gelächelt. »Ich fahre zu meinen Eltern, um es ihnen zu sagen. Ich habe keine Ahnung, wann ich zurück sein werde. Ich melde mich bald, Paula. Danke.«
    Es gab nichts mehr zu sagen, und Paula war klug genug, das zu begreifen. Carol fuhr weiter und grübelte über alles nach, was sie über Vance und seine Vorgeschichte wusste. Aber nichts Nützliches kam zutage. Das letzte Mal, als sie sich so machtlos gefühlt hatte, hatte sie monatelang versucht, Trost im Alkohol zu finden. Aber eines stand fest: Sie war entschlossen, das nicht wieder zu tun.
    Als sie die Autobahn verließ, hatte der Verkehr nachgelassen. Ihre Eltern hatten sich vor zwei Jahren in einem Dorf in Oxfordshire zur Ruhe gesetzt und hofften, ihrer Leidenschaft fürs Gärtnern und für Bridge frönen zu können. Ihr Vater sah gern dem Dorfteam beim Kricket zu, und ihre Mutter hatte sich mit schwer verständlicher Begeisterung dem Landfrauenverein angeschlossen. Plötzlich waren sie zu Karikaturen des englischen Mittelstands geworden. Weder Carol noch Michael hatten sich zu Erwachsenen entwickelt, die etwas mit ihren Eltern gemeinsam hatten, und als sie das letzte Mal zu einem längeren Besuch dort gewesen war, gingen Carol deprimierend bald die Themen aus.
    An einem Freitagabend war das einzige Lebenszeichen im Dorf die Beleuchtung. Der Pub mit Strohdach war angestrahlt,

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