Vergeltung
Schale mit Orangen, Äpfeln und Bananen auf einem Beistelltisch. »Obst und so was. Richtiges Essen. Und wir zahlen die Miete.«
Er legte ein dünnes, in Jeans steckendes Bein über das andere und faltete die Hände über dem Knie. Die tuntenhafte Geste untergrub seinen Versuch, sich würdig zu geben, und machte Paula noch trauriger.
»Es tut mir leid wegen Suze«, sagte sie. »Was mit ihr geschehen ist, ist unverzeihlich.«
»Wenn ihr auf mich gehört hättet, als ich sie vermisst gemeldet habe … Wenn man mich ernst genommen hätte …« Der unausgesprochene Vorwurf hing in der Luft.
Paula seufzte und sagte mitfühlend: »Ich kann verstehen, dass Sie so zornig sind, Nicky. Aber auch wenn wir sofort, als Sie Suze vermisst gemeldet hatten, auf Alarmstufe Rot geschaltet hätten, wären wir zu spät gekommen. Es tut mir leid, aber die Wahrheit ist, sie war schon einige Zeit tot, bevor selbst Sie bemerkten, dass sie nicht mehr da war. Ich weiß, dass Sie Schuldgefühle haben, Nicky, aber Sie hätten nichts tun können, was für das Endergebnis einen Unterschied gemacht hätte.«
Nicky schniefte laut, seine Augen glänzten. Paula konnte sich nicht festlegen, ob Kokain oder sein Kummer die Ursache war. Nach Kevins Körpersprache zu urteilen, hatte er sich bereits entschieden.
»Suze war toll«, sagte Nicky mit heiserer Stimme. »Ich kenne sie seit Jahren. Wir gingen zusammen in die Schule. Wir haben oft geschwänzt und sind zur Spielhalle runter, haben uns dort rumgedrückt und mit den Rentnern Bingo gespielt.«
»Sie hatten also beide Probleme mit der Schule?«
Er lachte spöttisch. »Mit der Schule, zu Hause, mit anderen Kindern. Mit allem eigentlich. Suze und ich hatten das Talent, dauernd in irgendeiner Klemme zu stecken. Sie ist der einzige Mensch aus der Zeit damals, der noch eine Rolle für mich spielt. Alle anderen haben mich ausgenutzt und sich dann davongemacht. Aber Suze nicht. Wir haben füreinander gesorgt.«
Paula fand, er sei jetzt entspannt genug, um sich einer schwierigeren Frage zu stellen. »Sie arbeiten also beide auf der Straße, oder?«
Nicky nickte. »Die Miete.« Er warf einen Blick an die rissige Decke und blinzelte Tränen aus seinen großen, blauen Augen weg, die das hervorstechendste Merkmal seines schmalen knochigen Gesichts mit den dünnen Lippen und den angeschlagenen Zähnen waren. »Wir konnten ja sonst nichts. Suze versuchte, im Laden an der Ecke zu arbeiten, aber die Bezahlung war miserabel.« Er zuckte leicht mit den Achseln. »Ich weiß nicht, wie die Leute damit klarkommen.«
»Die meisten Leute brauchen nicht so viel für ihre Drogen«, sagte Kevin, ohne jedoch herzlos zu klingen.
Nicky wischte mit den Fingerspitzen eine Träne weg. »Dann bringen Sie mich doch vor Gericht, verdammt noch mal.«
»Suze nahm Heroin, stimmt’s?«, versuchte Paula wieder zum Thema zurückzukehren.
Nicky nickte und begann, an der Nagelhaut seines Daumens zu zupfen. »Das machte sie schon jahrelang.« Er warf Paula einen schnellen Blick zu. »Sie war nicht die ganze Zeit high. Nur, also, immer schön gleichmäßig. Sie kam zurecht. Auf Heroin kam sie zurecht. Aber ohne?« Er seufzte. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie uns für Gesindel halten, aber wir kamen klar.« Er griff nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an. Nachträglich fiel ihm ein, dass er Paula eine anbieten könnte, die jedoch schaffte es abzulehnen.
»Ich kann das verstehen«, sagte Paula. »Ich verstehe, wie sehr Sie beide sich angestrengt haben. Ich bin nicht hier, um Ihnen Ärger zu machen. Ich muss nur sichergehen, ob Suze wegen irgendwelcher Umstände in ihrem Leben gestorben ist oder weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war.«
Nicky richtete sich auf, nahm das Bein vom Knie und hielt sich am Stuhlsitz fest. »Es gab niemanden in ihrem Leben, der Suze schaden wollte. Ich weiß, Sie meinen, ich rede so gut von ihr, weil sie tot ist, aber so war es nicht. Sie war ’ne Nutte und ’n Junkie, aber kein schlechter Mensch. Sie hatte nie ’n Zuhälter. Sie hatte nur ’nen Dealer, der für sie sorgte.«
»Wer war ihr Dealer?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich nenne keine Namen. Das wär dumm, und ich bin nicht dumm. Was immer Sie denken mögen. Schauen Sie, sie war eine gute Kundin. Und sie brachte ihm andere Kunden, deshalb hat er dafür gesorgt, dass niemand sie belästigte. Niemand kam ihr auf ihrem Stammplatz ins Gehege. Alle wussten Bescheid. Als diese verdammten Osteuropäerinnen bei der Baustelle
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