Vergeltung
ausschmücken, hielt aber gerade rechtzeitig inne. Die besten Lügen waren die mit dem größten Wahrheitsanteil, rief er sich ins Gedächtnis.
Chris hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr Haar sah aus, als hätte es lang keine Bürste mehr gesehen. Obwohl sie gewöhnlich lebhaft wirkte, war sie gedrückt wie ein Hund, der bis zur völligen Erschöpfung durch die Gegend gehetzt worden war. Sie versteckte ein Gähnen hinter der Hand und hob zum Gruß kaum die Augenbrauen. »Is was, Doc?«, brachte sie heraus, aber es war nur ein schwacher Widerhall ihrer selbst.
»Wir tanzen alle den Jacko-Vance-Tango«, sagte er bedrückt, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu den beiden Frauen. »Er wird sich wohl die Hände reiben vor Freude bei dem Gedanken, dass wir alle wie verrückt herumrennen und uns fragen, wo er ist und was er macht.«
»Ich habe gerade mit West Mercia gesprochen«, sagte Carol. »Sie organisieren die Suchaktion. Sie hatten noch mehr als den üblichen Ansturm angeblicher Sichtungen – überall von Aberdeen bis Plymouth, aber keine einzige wurde bestätigt.«
»Eins der Probleme ist, dass wir keine Ahnung haben, wie er aussieht«, betonte Tony. »Wir können sicher sein, dass er nicht mehr wie die Karikatur eines englischen Fußballfans auftritt. Bestimmt trägt er eine Perücke, hat einen anderen Bart oder gar keinen und eine andere Brille.«
»Aber er ist immer noch ein Mann mit einem Arm«, gab Chris zu bedenken. »Das kann er nicht verstecken.«
»Seine Prothese ist nicht so leicht zu erkennen. Nachdem ich mit meinem Kontaktmann im Innenministerium sprach, habe ich mich online kundig gemacht. Es gibt jetzt eine Art künstliche Haut, die wirklich erstaunlich realistisch wirkt. Man muss ganz genau hinschauen, um zu bemerken, dass sie nicht echt ist, und die wenigsten von uns sind so aufmerksam. Und Vance hat das Beste, was auf dem Markt zu finden ist.«
»Dank des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte«, murmelte Carol. »Wir wissen also, dass wir nicht viel wissen. Vance könnte wirklich irgendwo von Aberdeen bis Plymouth sein. Wie ist es gelaufen, Chris?«
Chris richtete sich auf ihrem Stuhl auf und warf einen Blick in ihr Notizbuch. »Okay. Leon ist noch bei der Met. Er ist gut vorangekommen. Er ist genau das, was die da oben wollen – studiert, schwarz, klug und vorzeigbar. Und nachweislich nicht bestechlich.« Sie grinste Carol zu. »Er ist jetzt Detective Chief Inspector, beim SO19.«
Tony lachte schnaubend. »Leon ist Personenschützer beim diplomatischen Dienst? Leon, der ungefähr so diplomatisch war wie ich?«
»Laut meinen alten Kumpels bei der Met hat er gelernt, den Mund zu halten und das Spielchen mitzuspielen. Er wird überall respektiert. Ich habe ihn telefonisch erreicht und informiert.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Tony, der sich an Leon mit seinen schicken Anzügen und seinem angeberischen Stil erinnerte. Er war schlau genug gewesen, sich ohne viel Eifer anzupassen und mit seinem Grips durchzukommen statt durch Arbeit. Um so weit aufzusteigen, musste er gelernt haben zuzupacken. Das hätte Tony gern miterlebt, wie Leon durch Arbeit und Verantwortung den Feinschliff bekam.
»Er tat es lachend ab. Aber das ist ja klar bei ihm.«
»Wie ist seine private Situation?«, fragte Carol.
»Er hat eine Ex-Frau und zwei Kinder in Hornsey und lebt mit seiner jetzigen Partnerin in den Docklands. Ich habe versucht, ihn zu überreden, sie vorübergehend von dort wegzubringen, aber er wollte nichts davon hören.« Chris verzog das Gesicht. »Er sagte: ›Wenn ich eine Todesanzeige für Carol Jordan und Tony Hill lese, dann zieh ich mich in die Berge zurück. Aber im Moment mach ich mir keine allzu großen Sorgen.‹ Davon konnte ich ihn nicht abbringen.«
»Er hat schon irgendwie recht«, meinte Tony. »Leon steht nicht oben auf der Liste, was Dienstalter oder Alphabet oder geographische Nähe betrifft. Und da wir alle keine Ahnung haben, wie lange es dauern wird, ist es wahrscheinlich eine gute Idee, noch nicht sein ganzes Leben umzukrempeln.«
»Außer wenn wir anderen es Vance so schwermachen, uns zu erwischen, dass er schließlich in Ermangelung anderer Opfer sich doch Leon vornimmt«, sagte Carol eisig. »Vielleicht könntest du das ihm gegenüber erwähnen, Chris.«
Chris schien von dieser Aussicht nicht gerade begeistert. »Simon McNeill ist kein Polizist mehr. Nach der Ermordung von Shaz Bowman blieb er noch zwei Jahre bei der Polizei Strathclyde, dann gab
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