Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
in deinem Leben spielen«, entgegnete ich und er nickte. »Aber woher weißt du denn, dass sie nicht wichtig sein werden? Wenn du es gar nicht erst versuchst?«
Warren öffnete den Mund, aber es kam keine Antwort. Ich konnte förmlich hören, wie sein Denkapparat auf Hochtouren lief und vom analytischen Geist des Rechtsanwalts in spe nach einer Antwort durchpflügt wurde. Er holte Luft, um etwas zu sagen, atmete aber schließlich einfach nur geräuschvoll wieder aus. »Keine Ahnung«, sagte er.
Im Grunde wollte ich ja wirklich reingehen, aber als ich meinen Bruder so ansah, wie er da im Halbdunkel saß und Bücher las, die er vermutlich weder in den nächsten Monaten noch den nächsten Jahren brauchte, überlegte ich es mir anders. Entschlossen schob ich den Textmarker über den Tisch zurück zu ihm und er lächelte mich kurz an, ehe er ihn in die Hand nahm. Dann setzte ich mich wieder auf meinen Platz und Warren arbeitete geduldig das Buch weiter durch und unterstrich die wesentlichen Stellen, damit er auch ja nichts Wichtiges verpasste, während um uns herum der Regen niederprasselte.
Kapitel 13
Fünf Sommer zuvor
Ein richtiges Date war das nicht. Das sagte ich mir zumindest ununterbrochen, seit Henry mich auf dem Rückweg vom Schwimmbad, als wir mit den nassen Handtüchern um die Schultern unsere Fahrräder nach Hause schoben, ins Kino eingeladen hatte. Wir wollten nur zusammen einen Film ansehen, nichts weiter.
Keine Ahnung, wieso ich dann dermaßen aufgeregt neben ihm im dunklen Outpost-Kino saß. Vom Film bekam ich so gut wie nichts mit, weil mich seine Nähe völlig in Beschlag nahm. Ich merkte sofort, wenn er sich auf dem roten Samtsessel bewegte oder auch nur Luft holte. Noch nie im Leben war mir die Armlehne zwischen uns so bewusst gewesen wie jetzt, und ich fragte mich verzweifelt, ob ich meinen Arm darauf ablegen sollte und ob er dann vielleicht meine Hand nehmen würde.
Der Sommer ohne Lucy verlief deutlich angenehmer als erwartet, was vor allem an Henry lag. In den ersten Wochen verbrachten wir viel Zeit zusammen am Strand, im Schwimmbad oder auch im Wald, wo Henry mir immer neue Steine oder Insekten zeigen wollte, die mich »total umhauen« würden. Wenn es regnete und keiner Zeit hatte, uns zum Shoppingparadies Stroud Mall oder ins Bowlingzentrum Pocono Lanes zu fahren, trafen wir uns in seinem Baumhaus. Manchmal war auch Elliot mit dabei, dann spielten wir die von ihm ausgedachte Pokervariante für drei. Dabei hatte ich allerdings weniger Erfolg als bei anderen Kartenspielen, denn aus unerfindlichen Gründen merkte Henry jedes Mal, wenn ich versuchte zu bluffen, wollte mir aber nicht verraten, woran er das merkte. Mit Henry konnte ich natürlich nicht wie mit Lucy Schminkzeug austauschen, Cheerleader-Filme ansehen oder Süßigkeiten teilen. (Henry behauptete doch echt, dass er bei den verschiedenfarbigen Skittles keinen Unterschied schmeckte.) Außerdem hatte ich jetzt niemanden mehr, mit dem ich in der Bibliothek über Mädchenzeitschriften hocken konnte. Trotzdem hatten Henry und ich eine Menge Spaß zusammen.
Aber seit voriger Woche war plötzlich irgendwas anders. Es hatte auf dem Badefloß angefangen. Das Floß war groß genug für etwa zehn Leute. (Obwohl die Rettungsschwimmer schon pfiffen, wenn nur fünf Mann gleichzeitig drauf waren, und wenn man jemanden reinschubsen wollte sowieso). Unsere Wettkämpfe waren im Laufe des Nachmittags immer komplizierter geworden. Nach dem letzten – vom Floß zum Strand schwimmen, von dort bis zum Kiosk rennen, wieder zurück zum Wasser und zum Schluss zum Floß zurückschwimmen – waren wir beide fix und fertig. Wir lagen keuchend auf dem Floß, aber nach einer Weile war ich mir fast sicher, dass Henry eingeschlafen war.
Zum Test drückte ich meinen triefnassen Zopf über ihm aus, damit er wieder aufwachte. Aber entweder schlief er wirklich tief und fest oder er war ein extrem guter Schauspieler. Jedenfalls regte er sich kein bisschen. Als mein Zopf komplett ausgewrungen war, hielt ich meine Hand ins Wasser und ließ meine Finger über ihm abtropfen, aber er zuckte nicht mal mit der Wimper. Da er offenbar tatsächlich schlief, tat es mir jetzt leid, dass ich ihn gestört hatte, und fing an, ihm ein paar Wassertropfen vom Gesicht zu wischen. Als ich mich gerade an seiner Stirn zu schaffen machte, öffnete er plötzlich die Augen und sah mich an. Wir waren beide einen Moment wie erstarrt, und ich bemerkte zum ersten Mal, was für schöne Augen er
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