Vergiss die Toten nicht
Wiedersehen unzählige Male in Gedanken durchgespielt. Er hatte sich vorgenommen, sie zu trösten und aufzurichten: »Hör auf, dich selbst zu bestrafen. Es war ein Unfall. Warum kannst du dir nicht verzeihen? Schließlich habe ich dir längst verziehen.«
Er hatte Lilly Brown, der Frau aus dem Obdachlosenasyl, seine Visitenkarte gegeben. »Wenn Sie sie sehen, rufen Sie mich bitte an«, sagte er zu ihr. »Aber verraten Sie ihr nicht, dass ich sie suche. Sonst verschwindet sie vielleicht wieder.«
»Quinny kommt bestimmt zurück«, versicherte ihm Lilly. »Wie ich sie kenne, ist sie sicher bald wieder da. Sie verlässt New York nie für lange, und im Sommer gefällt es ihr am besten im Central Park. Das ist ihr absoluter Lieblingsplatz. Ich werde mich für Sie umhören. Möglicherweise hat sie ja jemand gesehen.«
Zurzeit muss ich mich wohl mit dieser Auskunft zufrieden geben, dachte Dan, während er durch den Central Park joggte.
Es war noch hell, aber die Sonne ging bereits unter. Außerdem wurde es zunehmend kühler, und ein kalter Wind strich über seinen schweißfeuchten Rücken und seine Beine. Und dabei war der Sommer doch fast schon da. Bitte, lass diesen Abend keinen Vorgeschmack auf den New Yorker Sommer sein, sonst friert sie sich zu Tode, sagte sich Dan. Und er hoffte, dass die Frau, die sich »Quinny« nannte, irgendwo hier auf einer Parkbank saß.
22
U
m Punkt sechs Uhr stand Cornelius MacDermott vor Nells Wohnungstür. Als sie ihm aufmachte, sahen die beiden einander eine Weile schweigend an. Schließlich streckte MacDermott die Arme aus und drückte seine Enkelin an sich.
»Nell«, sagte er. »Erinnerst du dich an den Spruch, mit dem die alten Iren bei Beerdigungen die Trauernden trösten? ›Ihr Verlust tut mir leid.‹ Du fandest diese Bemerkung immer schrecklich dämlich. Und in einem altklugen Tonfall hast du verkündet: ›Nicht der Verlust tut einem leid, sondern der Mensch, der ihn erlitten hat.‹«
»Ich habe es nicht vergessen«, sagte Nel .
»Und was habe ich dir geantwortet?«
»Du hast mir erklärt, der Ausspruch bedeute, dass geteiltes Leid halbes Leid ist.«
»Richtig. Also stell dir vor, ich wäre einer dieser alten Iren. Ich fühle mit dir. Und deshalb musst du mir glauben, dass ich Adams Tod sehr bedauere. Ich würde alles tun, um dir den Schmerz, den du zurzeit empfindest, zu ersparen.«
Sei nicht ungerecht zu ihm, sagte Nell sich. Mac ist zweiundachtzig. Mein ganzes Leben lang hat er mich geliebt und für mich gesorgt. Vielleicht war er einfach eifersüchtig auf Adam.
Nach Omas Tod hätte Mac noch gute Chancen bei den Frauen gehabt, und wahrscheinlich hat er sich meinetwegen auf keine neue Beziehung mehr eingelassen.
»Das weiß ich«, erwiderte sie. »Und ich freue mich, dass du hier bist. Wahrscheinlich brauche ich einfach nur Zeit, um alles zu begreifen.«
»Aber leider hast du keine«, entgegnete Mac knapp. »Komm und setz dich. Wir müssen miteinander reden.«
Nel , die keine Ahnung hatte, was sie erwartete, folgte ihm gehorsam ins Wohnzimmer.
Sobald sie sich hingesetzt hatten, begann Mac: »Nell, mir ist klar, dass der Zeitpunkt äußerst ungünstig ist, doch es gibt einiges zu besprechen. Ich sollte dich nicht jetzt, noch vor Adams Trauergottesdienst, mit Fragen quälen, und ich entschuldige mich für diesen Überfall. Ich würde verstehen, wenn du mich gleich hinauswirfst. Doch es gibt nun einmal Dinge, die nicht warten können.«
Nun wusste Nel , was er ihr sagen wollte.
»Wir haben kein gewöhnliches Wahljahr, denn es finden zusätzlich die Präsidentschaftswahlen statt. Sicher bist du dir ebenso wie ich darüber im Klaren, dass noch alles Mögliche dazwischenkommen kann. Aber unser Mann liegt weit vorne, und falls er keine ausgesprochene Dummheit begeht, wird er der nächste Präsident der Vereinigten Staaten.«
Bestimmt wird er das, dachte Nel , und gewiss auch ein guter.
Zum ersten Mal seit Adams Tod spürte sie, wie sich in ihr wieder Gefühle regten – offenbar war sie im Begriff, zu den Lebenden zurückzukehren. Sie blickte ihren Großvater an und stellte fest, dass seine Augen funkelten wie schon lange nicht mehr. Es gibt nichts Besseres als einen Wahlkampf, um dieses alte Streitross zu beflügeln, schoss es ihr durch den Kopf.
»Nell, ich habe soeben erfahren, dass noch ein paar Jungs für meinen alten Sitz kandidieren wollen. Tim Clancey und Salvadore Bruno zum Beispiel.«
»Tim Clancey kriegt im Stadtrat nicht den Mund auf, und Sal Bruno
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