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Verirrt in den Zeiten

Verirrt in den Zeiten

Titel: Verirrt in den Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Levett
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abzumessen, was an jeder Stelle, die ich
jetzt durchschritt, zu meiner Zeit gestanden hatte: hier die
Gartenhäuser der Letzkau und der Koppenhöfer, da die Gastwirtschaft
»Zum Weißen Stern« und dort das Kaufhaus Wallenrod.
    Und plötzlich überkam es, überfiel es, überwältigte es
mich: Heimweh, Sehnsucht. Sehnsucht nach der Zeit, aus der
ich stammte, nach allen Äußerungen ihres Lebens. DasNüchternste schien mir begehrenswert und das Alltägliche bezaubernd.
Ich sehnte mich nach einem Eisenwalzwerk, wo
sich die weißen Fluten gebändigten Metalls in die gewollte
Form ergießen, nach einer Bahnhofshalle, wo ein Expreßzug
donnernd in die gleißenden Geleise stürzt, nach Zeitungsrufern,
Straßenbahnen, nach dem nüchtern-kalten Glanz moderner
Waffen und nach dem knappen Rhythmus der Maschinen.
    All das stand, schwebte, schimmerte vor mir, handgreiflich
nahe und doch weltenfern, strahlend wie ein Zauberschloß,
wie eine Fata morgana — indes ich auf der nächtig dunkeln
Straße einsam hinschritt, zu den düstern Bastionen, die drohend
aus dem Finstern ragten.
    Auf dem Markt war alles still und dunkel. Nur vor dem
Rathaustore schwelten Fackeln, und die Innungszeichen
schaukelten im Winde.
    Doch im Rathaus ist es noch lebendig. Aus den Fenstern
des großen Saals im ersten Stockwerk dringt festliche Beleuchtung,
Musik und Lärm. Sie feiern ein Bankett dem siegreichen
Treffen zu Ehren, das die Schweden gestern den Kaiserlichen
lieferten, wobei sie ihnen eine Proviantkolonne und
vier Geschütze nahmen.
    Gerade unter diesen lichtbestrahlten Fenstern muß ich den
Draht befestigen. Da ich keine Leiter finde, klettere ich kurzerhand
hinauf.
    Nach getaner Arbeit raste ich und schaue, auf das Sims gekauert,
in den Saal.
    Auf der Estrade die Musikanten mit ihren Pfeifen und Violen,
Zinken und Theorben. Sie spielen zum Tanze auf: eine
nachdenkliche Passacaglia und eine ernste Sarabande; dann
ein muntrer Rigaudon, ein Tambourin, ein leichtbeschwingter
Passepied und eine heitre Romanesca.
    Und im Saale, da drehen sich die Paare und wiegen sich
und hüpfen, in ihren Gewändern aus Kapizol, aus Terzenell
und Engelsatt. In allen Farben schillern sie, in Bleumorant
und Koquinelle, in Kolombin und Isabelle. Und es wippen diePlumagehüte und die Fontangen, die Makronenhörnermützen
nicken.
    Ab und zu tritt einer von den Tänzern an das Fenster,
so daß ich mich rasch ducken muß, atmet auf, trocknet
sich die Stirne und sieht zerstreut hinunter auf die dunkle
Gasse.
    All dies sah ich, handgreiflich nahe und doch, auch dies,
wie weltenferne!
    Und Pärchen zogen sich hieher zurück, ganz dicht bei mir,
so daß ich jedes einzelne Mouchesternchen sehen konnte,
welches die Wangen und das Kinn der Schönen schmückte,
und daß ich jedes Wort verstehen konnte, womit der Werbende
das Herz der Angebeteten zu rühren suchte.
    Das alte Lied! Doch in welch putzig-schrullenhaften Tönen
erklang es hier.
    »Bitte um Pardon, so ich dem Frauenzimmer nicht gelegen
käme. Doch nun liege ich schon seit Monden im Spitale einer
ungewissen Hoffnung und warte auf die Ärztin, so mir Heilung
bringen möge.«
    Ein anderer, die Hände zierlich an das Herz gepreßt,
nannte seine Schöne nicht anders als »seiner Sorgen Löschpapier«
und vermeinte, seit er des Fräuleins wonnesamen Anblick
genossen, blickten seine Augen auf die Himmelsfackel
mit Despekt.
    Und wiederum ein dritter holte weit aus zu einem Kratzfuß
und beteuerte, er habe in dem tiefen Meere seiner Ohnwürdigkeit
die Tugend der geneigten Jungfer gleich einer köstlichen
Perle gefischt.
    So ging das weiter. Bis ich nicht länger an mir halten
konnte und losplatzte, daß die Scheiben klirrten. Die gerade
vor mir standen, mußten’s hören. Als sie dies wilde Lachen
hörten, das gleichsam aus den Lüften schallte, als sie dies bleiche,
höhnische Gesicht gewahrten, das gleichsam zwischen
Erd’ und Himmel schwebte, da mochten sie wohl glauben,
daß der leibhaftige Gottseibeiuns vor ihnen stünde. Und die
tugendreiche Jungfer wurde bleich bis unter ihre Schminke,kreischte auf, schlug ein Kreuz, raffte ihre Röcke und lief davon.
    Auch ich machte, daß ich fortkam, und mit dem letzten
Blicke, den ich in den Saal warf, sah ich unter den Tanzenden
Agathe. Am Arme des Matthäus Büttgemeister, wie sie ihm
holdselig zulächelte und wie er zärtlich-ehrerbietig auf sie
einsprach.
    Ich taumelte, und das Herzblut stockte mir in böser Ahnung.
    Hinter mir Stimmgewirr und Fackeln und Schritte, die

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