Verlockend untot
wie von der Straße stammendes Scheinwerferlicht.
Allerdings gab es keine Straße in der Nähe von Tonys Bauernhaus, das ein ganzes Stück abseits eines Feldwegs im ländlichen Pennsylvania stand. Trotzdem waren Szenen im Zimmer erschienen, wie die zitternden Bilder eines Stummfilms.
Sie hatten auch so ausgesehen, mit Farben, die zum größten Teil von der Nacht gestohlen waren. Bis auf das Blut. Aus irgendeinem Grund hatte es sich in eindrucksvollem Technicolor gezeigt und in aller Deutlichkeit von den matten schwarzen und braunen Tönen abgehoben, auch vom Grau des Asphalts.
So schrecklich es gewesen war… Es hatte sich nicht in dem Sinne um etwas Einzigartiges gehandelt. Ich hatte fast jeden Tag Visionen gehabt, bis ich lernte, sie zu vermeiden. Vermutlich hätte ich mich nicht einmal an jene Bilder erinnert, wenn nicht plötzlich Mircea erschienen wäre und mich aus der Vision herausgerissen hätte.
Tonys Leute hatten das nie getan, denn Tony hatte sie angewiesen, mich nie bei einer Vision zu stören, für den Fall, dass ich etwas sah, aus dem sich irgendwie Profit schlagen ließ. Es war also überaus seltsam gewesen, plötzlich eine Hand auf der Schulter zu fühlen, menschlich weich und blutwarm.
»Es war nur ein Albtraum«, erwiderte ich.
»Du hast gesagt, du hättest einen Unfall gesehen, in den mehrere Fahrzeuge verwickelt waren. Oder wie du es ausgedrückt hast: Blut bildete große, ölig glänzende Lachen; zerschmetterte Leichen lagen auf zerbrochenem Glas; es roch nach Benzin, verbranntem Gummi und verkohltem Fleisch. Am nächsten Morgen berichteten die Nachrichten von einem Auffahrunfall mit zehn beteiligten Wagen auf der New Jersey Turnpike.«
»Tatsächlich?«, fragte ich und wünschte mir plötzlich einen Drink, etwas Stärkeres als Sekt.
»Ich habe mich damals gefragt, wie es wohl wäre, als Kind aufzu-wachsen, das Dinge sieht, die anderen Kindern verborgen bleiben.
Das immer Schmerz, Schrecken und Tod sieht, wenn es die Augen schließt…«
»Das ist weit übertrieben.«
»… ein Kind, das nachts nicht schlafen konnte, zitterte und an die leere Wand starrte, weil es Grässliches sah.«
»Die Wand war nicht leer«, warf ich ein. »Rafe hatte sie bemalt.«
Der Maler unseres Hofes war niemand Geringerer gewesen als der Renaissance-Meister Raffael, der verwandelt worden war, nachdem er sich dummerweise geweigert hatte, für den florentinischen Senkrechtstarter Antonio Gallina zu arbeiten. Es war das letzte Mal gewesen, dass er einen Auftrag von Tony abgelehnt hatte, was nicht bedeutete, dass er viele bekommen hätte. Um Kunst zu schätzen, brauchte man eine Seele, und ich zweifelte kaum daran, dass Tony ohne eine geboren worden war.
»Ja«, sagte Mircea. »Weil ich ihn darum gebeten habe.«
Ich runzelte die Stirn. Das hatte ich nicht gewusst. »Du hast ihn darum gebeten? Warum?«
»Weil ich dachte, dass ein Kind nicht nur Tod sehen sollte.«
Mirceas dunkler Blick begegnete meinem im spiegelnden Fenster, nur kurz, denn ich drehte sofort den Kopf. »Ich möchte noch etwas zu trinken«, sagte ich, aber Mirceas Arme hielten mich weiterhin fest.
»Natürlich möchtest du das«, sagte er. »Ich beabsichtige, mit dir über die Gefühle zu sprechen, die du mit deiner Mutter verbindest, und daraufhin möchtest du etwas trinken. Oder essen. Oder dir fällt etwas ein, das du dringend erledigen musst.«
Ich versuchte, mich aus der Umarmung zu lösen, die plötzlich nicht mehr so angenehm war. »Lass mich los.«
»Damit du dir was zu trinken holen kannst? Oder weil du dem Gespräch ausweichen willst?«
»Ich weiche nicht aus!«, entgegnete ich scharf. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so schwer sein würde.
Mircea und ich waren uneingeladen bei dieser Party aufgekreuzt, weil ich meine Mutter sehen wollte. Nicht um mit ihr zu reden oder irgendwie mit ihr zu interagieren, was mit ziemlicher Sicherheit die Zeitlinie durcheinandergebracht hätte. Ich wollte sie einfach nur sehen.
Weil ich meine Mutter nur von einem schlechten Foto kannte.
Aber jetzt, da wir hier waren … Plötzlich genügte es mir nicht mehr, sie nur zu sehen. Ich wollte in ihre Nähe und herausfinden, ob sie noch immer nach Honig und Flieder roch, mit einem Hauch von wächsernem Lippenstift.
Und ich wollte, dass sie mich sah.
Vor allem aber wollte ich Fragen an sie richten. Warum hatte sie eine Arbeit aufgegeben, für die die meisten Leute über Leichen gegangen wären, um einen Mann zu heiraten, den die meisten
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