Verlorene Eier
Gegend?«
Stille. Alle Blicke scheinen auf mich gerichtet zu sein. Nun ja, mir ist natürlich klar, dass ich aus Gründen der Einfachheit einige Teile der Geschichte ein wenig gestrafft (besser gesagt, weggelassen) und ihnen weder von Angela Huxtable noch vom wahren Grund für meine Reise in die USA erzählt habe. Aus Caerwens Sicht (und der der Urquhart-Brüder) weist der Plot massive Lücken auf, wie wir Autoren es bezeichnen.
»Wieso ich wie eine Frau angezogen bin?«, wiederhole ich, um Zeit zu schinden. »Du willst also wissen, wieso ich Frauenkleider anhabe?«
Eine durchaus berechtigte Frage. Irgendwo in der Ferne läutet eine Glocke. Nun, wie könnte die Antwort darauf lauten?
Amber, das Mädchen, ist lesbisch, und ich wollte mich für sie attraktiver machen.
Ich bin lesbisch.
Ich habe einen Nervenzusammenbruch.
Ich mache bei einer Geschlechtertausch-Show fürs Fernsehen mit.
Ich schreibe einen Artikel darüber, wie ich eine Woche lang als Frau gelebt habe. (Ich glaube, so etwas Ähnliches habe ich schon mal in irgendeinem Schmierblatt gelesen.)
Es war die einzige Möglichkeit, einem amerikanischen Verlag eine Million Mäuse aus der Tasche zu ziehen. (Ja klar, wer würde mir so einen Schwachsinn schon abkaufen?)
»Was sind das für Glocken, die da läuten?«, fragt Daphne.
»St. Botolph’s«, antwortet Si. »Bei Nebel hört man sie immer am besten.«
»Findet dort eine Messe statt?«
»Keine Ahnung. Sieht ganz so aus.«
»Hören sie sich nicht irgendwie komisch an?«
»Komisch?«
»Na ja, seltsam eben.«
Alle lauschen angestrengt. Daphne hat recht. Das Läuten klingt ein wenig abgehackt und unregelmäßig, so als hätte der Messner die Bedienungsanleitung nicht ganz zu Ende gelesen.
Ein eigentümlicher Ausdruck liegt auf Daphne Ottershaws Zügen, und als ich in ihre wässrig-grauen Augen blicke, spüre ich – diesen Satz habe ich schon tausendmal in Thrillern gelesen –, wie sich die Angst wie eine eisige Faust um mein Herz legt.
»Oh Gott, Daphne.«
Sie nickt. »Haben Sie einen Hut? Man kann doch nicht ohne Hut bei einer Hochzeit erscheinen.«
10
Am Ende gehen wir alle. Daphne weigert sich hierzubleiben, nachdem sie in Tanger schon das ganze Spektakel verpasst hat; Caerwen meint, eine ausgebildete Krankenschwester könnte immer von Nutzen sein, wenn Waffen im Spiel sind; die Urquharts wollen mitkommen, weil »Ärger unser täglich Brot ist«, wie Si es ausdrückt, was mir beinahe die Tränen in die Augen treibt, und Kiki besteht darauf mitzukommen, mit folgender Begründung: »Schließlich sind wir jetzt schon so weit gekommen, Herzchen. Da werde ich mir doch nicht das glorreiche Ende entgehen lassen.«
Wir quetschen uns in den alten Mercedes, da es das einzige verfügbare Gefährt ist, in das sechs Leute passen. Si setzt sich hinters Steuer, Caerwen und Jago neben ihn auf den Beifahrersitz, während Kiki, Daphne und ich uns auf den Rücksitz zwängen.
Doorbell bricht wieder in lautes Gebell aus und zerrt an seiner Kette, als Si den Wagen die Zufahrt entlang und auf die Landstraße lenkt.
Der Nebel ist dichter denn je zuvor. Im Schneckentempo kriechen wir die Straße entlang, während mir Caerwens Worte wieder in den Sinn kommen:
Und deshalb musst du sie dir zurückholen, ja?
Du musst diesen Phil E. Paintbrush fertigmachen.
Mit Feigheit hat allerdings noch keiner das Herz einer schönen Frau gewonnen!
Nach all den Lügen und Verwirrungen scheint diesen drei Sätzen eine geradezu philosophische Prägnanz innezuwohnen. Zwar ist mir noch nicht ganz klar, wie genau ich Philly Paintbrush »fertigmachen« soll, doch meine Entschlossenheit könnte kaum größer sein. Und wieder einmal war Caerwen an einem kritischen Punkt in meinem Leben zur Stelle und fungierte als eine Art Katalysator. Ihre untrügliche Gewissheit, was getan werden muss, hat mir geholfen, Mut zu zeigen, allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze. Mit einem Mal erscheint es mir nicht länger absurd, in Frauenkleidern in Begleitung einer Transe, einer alten Schachtel, die mit einem Fuß bereits im Grab steht, und einer Auswahl ruraler Halbwelt-Ganoven in einem schrottigen Mercedes zu sitzen und durch die nebelschwadige Landschaft Shropshires zu gondeln. Absurderweise fühlt es sich an, als wäre es genau das Richtige.
Jago sitzt auf dem Beifahrersitz und fummelt an einer 22er-Hasenflinte herum.
»Tschechow sagte einmal, wenn du im ersten Akt ein Gewehr an die Wand hängst, musst du spätestens im zweiten Akt
Weitere Kostenlose Bücher