Verlorene Eier
wundern, wenn sie ein Jahr als Seehund gelebt hätte.«
»Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt. Sie klingt, als wäre sie ein faszinierendes Ungeheuer.«
»Themawechsel. Ich, äh, mir ist aufgefallen, dass du dich sehr gut mit Georgina Steinitz verstanden hast.«
»Oh ja, ihre Großmutter hat immer ihren Bienen vorgesungen.«
»Eigentlich äußere ich mich ja prinzipiell nicht über die sexuellen Präferenzen anderer Leute, aber du solltest etwas über George wissen.«
»Scheiße, was denn?«
Gerald mustert mich über den Rand seiner Eulenbrillengläser hinweg. »Nun ja, laut Nora – für die Diskretion ja ein Fremdwort ist – bevorzugt George eher Frauen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Einige Sekunden vergehen, während ich die Neuigkeit auf mich wirken lasse. Noch ein paar Sekunden. Okay, eine Minute.
»Gerald.«
»Ja, Bill.«
»Ich glaube, ich habe mit ihr geflirtet.«
»Verstehe.«
»Aber nicht übermäßig.«
»Natürlich.«
»Aber es bestand eine … gewisse Atmosphäre.«
»Würdest du sie als sexuell geladen bezeichnen?«
»Möglicherweise. Vielleicht habe ich ein paar Signale missverstanden.«
»So etwas kann vorkommen. Aber keine Sorge, Bill, im Notfall kannst du dich noch immer auf dein Alter berufen.«
Ich starre ihn einen Moment lang an, dann brechen wir beide in haltloses Kichern aus.
»Aber sie kann doch wohl kaum auf mich stehen, oder?«, frage ich, nachdem der Lachanfall verebbt ist. »Ich bin alt genug, um ihre Mutter zu sein. Oder ihr Vater. Oder was auch immer.«
»Ganz im Gegenteil. Soweit ich weiß, gibt es in dieser Szene viele, die sich stark zu Älteren hingezogen fühlen.«
»Ich bitte dich.«
»Es ist doch durchaus möglich, dass sich eine junge Frau im Wirrwarr ihrer Regungen zu einer reiferen Frau hingezogen fühlt, die mit ihrer Sexualität mehr im Reinen ist.«
»Gerald …«
»Die ältere Frau wird zu einer Art Vorbild. Oder zur Mutterfigur. Vielleicht – jetzt wo du die Bienen erwähnst – sogar zur Großmutterfigur.«
»Gerald, das ist nicht gerade galant von dir.«
»Die Beziehung vertieft sich. Die Intimität überwältigt sie beide, als sie …«
»Lalalalalala, ich höre dir gar nicht zu, Gerald.«
17
Am nächsten Morgen stehe ich mit Gerald in der Lobby unseres Hotels. Ich bin wieder in mein Bill-Greefe-Selbst geschlüpft und trage meine Lieblingsjeans und ein halbwegs annehmbares Sakko dazu. Die Utensilien, die ich für meine Angela-Huxtable-Verkleidung brauche, sind sicher im größeren meiner beiden Koffer verstaut, und sobald Gerald die Rechnung abgezeichnet hat, brechen wir zur Penn Station auf.
Im ersten Moment registriere ich sie nur vage. Lange, schlanke Beine, eine Puma-Sonnenbrille (obwohl draußen keineswegs die Sonne herunterbrennt), das flüchtige Aufblitzen eines Elfenbeinrings an einem Daumen, doch dann fällt mein Blick auf ein orangenmarmeladenfarbenes Augenpaar, das von einem inneren Feuer erleuchtet zu sein scheint. Es ist wie eine physische Kraft, die mich mitten in die Magengrube trifft.
Amber steuert geradewegs auf mich zu – während ich wie ein Idiot dastehe und sie mit offenem Mund anstarre –, aber sie bleibt nicht stehen, weil sie mich als Mann logischerweise nicht erkennt. Stattdessen geht sie an mir vorbei zur Rezeption, beugt sich vor, wobei sie ein Bein leicht anhebt, so dass ein schmaler Absatz zum Vorschein kommt, und reicht einen Umschlag über den Tresen hinweg, den sie aus ihrer Hippietasche gezogen hat.
Es folgt ein Dialog, dem ich jedoch nicht folgen kann, da ich zu weit weg bin. Nachdem sie ihre Mission anscheinend erfolgreich ausgeführt hat, verschwindet sie durch die Schwingtüren, nicht jedoch, ohne dass ihr einige Blicke folgen.
Ich warte eine halbe Minute, ehe ich an die Rezeption trete.
»Hat jemand etwas für Angela Huxtable abgegeben?«, frage ich.
»Ja, Sir«, antwortet der ernste junge Mann.
Wenn ich etwas aus den Jahren in der Fleet Street mitgenommen habe, dann ist es die Fähigkeit, unter Druck mühelos eine Lüge aus dem Hut zu zaubern.
»Angela ist meine Schwester«, erkläre ich also. »Huxtable ist ihr Ehename. Ich bin Bill Greefe.« Ich präsentiere ihm meinen Pass, um ihn vollends durcheinanderzubringen. Als er mich verunsichert ansieht, mache ich ein trauriges Gesicht. »In dem Umschlag befindet sich ein Foto unserer toten Mutter. Am Wochenende findet eine Gedenkveranstaltung statt. Es sind die Fotos für den Trauergottesdienst. Sie müssen in einer halben
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