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Verlorene Eier

Verlorene Eier

Titel: Verlorene Eier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Scarlett
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ausklappen lassen (außerdem gibt es eine zweite Pritsche direkt unter der Decke, falls ich Besuch bekommen sollte), misst zwar gerade einmal einen auf zwei Meter, ist aber absolut funktional und mit einem Waschbecken und einer Toilette ausgestattet, außerdem gibt es eine Flasche Mineralwasser und eine Ausgabe der Washington Post von heute Morgen. Es ist eine Kreuzung aus Zugabteil, Hotelzimmer und Kleiderschrank.
    Ich ziehe meinen Ishiguro heraus, doch das Holpern des Zuges und die Wirkung des Weins und des Brandys lassen die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen. Trotzdem kann ich nicht einschlafen. Geralds Worte hallen noch immer in meinen Gedanken wider.
    Würde sie dich überhaupt bemerken?
    Würde sie?
    Würdigen Frauen wie sie Männer, die doppelt so alt sind wie sie, eines Blickes?
    Ich rufe mir den Tag ins Gedächtnis, an dem ich diese tödlichen Worte das erste Mal gehört habe – vor etwa einem Jahr in der Praxis meines Hausarztes in Oswestry. Nach einer schweren Bronchitis schlug der Arzt, der höchstens zwölf Jahre alt sein konnte, einen Lungenfunktionstest vor, bei dem ich tief Luft holen und so fest wie möglich in eine Röhre pusten sollte.
    »Völlig normal«, erklärte er, nachdem er das Ergebnis ausgewertet hatte. Und dann holte er zum tödlichen Schlag aus. »Für einen Mann Ihres Alters.«
    Das Urteil hing wie eine dunkle Wolke über mir.
    Für einen Mann Ihres Alters.
    Ein Vorteil an diesem Schlafabteil ist, dass man in den Koffer greifen kann, ohne aus dem Bett aufstehen zu müssen. Ich nehme den Buddha heraus und stelle ihn auf den Klapptisch, wo er von einem Lichtstrahl beschienen wird, der durch die zugezogenen Vorhänge dringt. Ich betrachte seinen glänzenden Schädel und warte darauf, dass er mit mir spricht. Doch außer dem rhythmischen Rattern des Zugs, der mich Meile um Meile weiter nach Süden durch Virginia und North Carolina bringt, ist nichts zu hören.
    Dumme Gans, dumme Gans, dumme Gans, scheint er zu singen. Dumme Gans, dumme Gans, dumme Gans.
    Bin ich eine dumme Gans? Weil ich mich in ein »durchgeknalltes Weibsstück« verliebt habe, wie Angela es ausgedrückt hat?
    Eine neue Zeile mischt sich in den Amtrak-Gesang. Er hatte diese Intensität an sich. Sie war immer da, bei allem, was er getan hat.
    Intensiv. Intensiv.
    Intensiv. Intensiv.
    Alles, was er getan hat, war so intensiv.
    Ein abscheuliches Bild schiebt sich vor mein geistiges Auge. Ich will es nicht sehen. Amber und Philly.
    Sie.
    Er.
    Ich wälze mich auf der schmalen Pritsche hin und her.
    Was würde Kiki tun? Diese Frage sollte ich mir doch stellen, wenn ich nicht mehr weiterweiß.
    Was würde Kiki tun?
    Was würde Kiki tun?
    Was würde Kiki tun?
    Endlich schlafe ich ein, vor mir das Bild von Christine Du Maurier bei unserer ersten Begegnung: dieses hochgeschlitzte rote Kleid, die riesigen Brüste und das einnehmende Lächeln.
    11
    Als ich aufwache, ist es kurz vor fünf Uhr morgens. Der Zug steht. Ich spähe durch den Vorhang nach draußen. Das erste Licht des Tages erscheint am Horizont. Wir befinden uns am Bahnhof eines Ortes namens Greenville in North Carolina. Der Buddha liegt auf dem Boden meines Schlafabteils. Die Vibration muss ihn heruntergeschüttelt haben. Dort, wo seine Nase war, ist ein Stück Stein abgesplittert. Kein gutes Omen, schwant mir.
    12
    Als ich das nächste Mal aufwache, sind wir nur noch zwanzig Minuten von Atlanta entfernt. Hektisch krame ich Angelas Kleider aus dem Koffer und ziehe mich an. Da ich keine Zeit mehr habe, mich zu rasieren, klatsche ich mir eine dicke Schicht Make-up ins Gesicht und hoffe das Beste. Beklommen trete ich Gerald auf dem Gang gegenüber.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragt er, was nicht gerade hilfreich ist.
    Am Ende des Bahnsteigs nimmt uns ein kleiner, gedrungener Mann in einem braunen Anzug mit grüner Fliege und einer Ausgabe von Sündige Leidenschaft in Empfang, der sich als Whitaker Crouch, unsere Begleitperson in Atlanta, vorstellt.
    »Wie geht’s, Ma’am?«, erkundigt er sich mit einem so festen Handschlag, dass mein Armband klappert.
    Er bietet sich an, mein Gepäck zu tragen, und quasselt auf dem Weg zum Wagen nahezu ununterbrochen. Ich halte den Blick stur auf meine Schuhspitzen geheftet, in der Hoffnung, dass er mein schlecht aufgetragenes Make-up nicht bemerkt. Whitaker Crouch erzählt uns, er habe bereits eine ganze Reihe wichtiger britischer Autoren während ihres Atlanta-Besuchs begleitet: Jeffrey Archer und V.S. Naipaul stehen ganz

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