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Verlorene Eier

Verlorene Eier

Titel: Verlorene Eier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Scarlett
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ich auch einige ihrer Eigenheiten übernehmen. Also, ab in die nächste Bar bitte, Mr Crouch.«
    »Sehr wohl, Ma’am.«
    Unser Ziel entpuppt sich als zylinderförmiges Hochhaus im Zentrum, bei dem es sich laut Whitaker um das fünfthöchste Gebäude der Stadt handelt. Wir steigen in den Aufzug, und er drückt den Knopf für die 73. Etage.
    »Sehen Sie sich das an«, sagt er, als sich die Türen öffnen.
    Wir stehen in einer dieser atemberaubenden Dreh-Bars – diese hier schafft eine volle Umdrehung innerhalb von fünfunddreißig Minuten. Die Aussicht ist unglaublich. Ich habe Mühe, nicht laut »Du meine Güte, seht euch das an!« zu sagen. Wir setzen uns ans Fenster, bestellen uns einen Drink und schauen zu, wie sich der Raum um die eigene Achse zu drehen beginnt.
    Als mein Martini kommt, kippe ich die Hälfte in einem Zug hinunter. Whitaker scheint zutiefst beeindruckt zu sein, und ich sehe ihm an, dass er mich im Geiste bereits auf seine Liste britischer Favoriten setzt.
    »Ich möchte Ihnen danken, Mr Crouch. Sie waren mir heute eine enorme Hilfe.«
    »War mir ein Vergnügen, Ma’am.«
    »Gerald, haben wir ein Buch für Mr Crouch dabei?«
    Mein Agent zieht ein Exemplar aus seiner Aktentasche. Ich habe eine seltsame Zuneigung für den kleinen Fettsack entwickelt und finde, dass ich ihm ein signiertes Buch schuldig bin.
    Whitaker steht auf, verneigt sich vor mir und presst seine bartumkränzten Lippen auf meine Fingerknöchel, ehe er sich wieder aufrichtet. Aus dem Augenwinkel registriere ich, dass Gerald in seinem Martini abgetaucht ist und dass seine Schultern krampfhaft zucken.
    Nachdem Whitaker gegangen ist – seine Tätigkeit ist offiziell beendet –, bestellen Gerald und ich eine neue Runde und machen Bestandsaufnahme.
    »Du warst heute ein bisschen daneben«, stellt er fest.
    »Tut mir leid.«
    Eine Pause entsteht, während wir die Aussicht auf das nächtliche Atlanta auf uns wirken lassen.
    »Das Mädchen ist nicht gekommen.«
    »Hm. Nein, das ist es wohl nicht.«
    »Vielleicht taucht die Kleine ja in Savannah auf.«
    Ich setze eine, wie ich hoffe, gleichgültige Miene auf und blicke auf die Stadt hinaus. Was habe ich mir gedacht? Wie bin ich überhaupt auf die Idee gekommen, sie könnte mir auch nach Atlanta folgen? Wieso ist das so wichtig für mich? Was mag sich in der World of Coca-Cola abspielen?
    Gerald und ich drehen vier ganze Runden, während wir uns – unauffällig, aber hemmungslos – betrinken. Irgendwann hebt mein Agent zu einem philosophischen Diskurs über eines seiner Lieblingsthemen an: der Mensch als einziges Lebewesen, das die Kunst des Geschichtenerzählens beherrscht. Seiner Ansicht nach werden wir erst durch die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, zu der Person, die wir sind (wobei diese Geschichten wiederum davon beeinflusst werden, was wir von anderen über uns erzählt bekommen; zuerst von unseren Eltern, später von unseren Freunden und Lehrern und danach von Kollegen und Lebenspartnern). Wer wir sind, was wir tun, wen wir lieben – unsere gesamte Existenz ist gewissermaßen in Geschichten in der Geschichte verwoben. Das erklärt in seinen Augen auch, weshalb Romane eine solche Faszination auf die Menschen ausüben. Es erklärt, warum wir so gefesselt von Kinderreimen sind und die einfachsten Geschichten (Junge trifft Mädchen usw.) die Macht besitzen, unser tiefstes Innerstes zu berühren.
    »Manchmal glaube ich, wir sind nur Ameisen mit überdimensionierten Gehirnen«, sagt er, während der Martini gefährlich über den Rand seines Glases schwappt. »Und dass unsere Gehirne eines Tages Dinge erkannt haben, die eigentlich gar nicht da waren. Der Schatten an der Wand, der wie ein Säbelzahntiger aussieht und all solche Dinge. Und das war die erste Geschichte.« (Er ist total breit. Das sieht man doch, oder?)
    Die Sonne ist längst untergegangen, als wir endlich von unseren Plätzen aufstehen. Ich nehme Geralds Arm (keine Ahnung, wer hier wen festhält), und irgendwie schaffen wir es, zum Aufzug zu gelangen.
    In der Stadt muss eine Messe stattfinden, denn der Aufzug füllt sich mit fröhlich lärmenden Gesellen, die allesamt Namensschilder mit dem Aufdruck »Photovoltaics Beyond Silicone USA « am Revers tragen. Ich starre auf die Geschossanzeige und muss mir ein Kichern verkneifen. Einer der Anzugtypen – Griffin W. Kovacs, leitender Ingenieur für irgendein wichtiges Kleinteil der American-Photovoltaics-Palette – mustert mich durchdringend.

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