Verlorene Eier
noch vor einer halben Stunde neben mir gesessen hat.
»Ich rauche nur in Krisenzeiten, meine Liebe. Beispielsweise, wenn ich mit einer Waffe bedroht werde.«
»Oh. Klar. Na ja, bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise von gerade eben, Angela.«
»Kein Problem. Es war doch nur verständlich. Sie haben bloß Ihren Job gemacht, nehme ich an. Und was für eine Art …« Ich bringe es nicht über mich, das Wort »Bulle« auszusprechen. »… was für eine Art Polizeibeamtin sind Sie?«
»Gar keine. Und Schauspielerin bin ich genauso wenig.«
»Nun, dann haben Sie mich ja gehörig getäuscht, meine Liebe.«
»Angela, ich habe eine ganze Menge Leute getäuscht. Und es hat mir nichts als gewaltigen Ärger eingebracht. Und Sie haben nichts als … na ja, Glück … in mein Leben gebracht, deshalb sind Sie der letzte Mensch, den ich in die Irre führen wollte. Aber es sieht so aus, als hätte ich genau das getan. Und dafür kann ich mich nur entschuldigen.«
»Entschuldigung angenommen, meine Liebe. Die wenigsten Leute sind das, wofür wir sie halten.« Sie wirft mir einen Blick zu. »Wir interpretieren so viel in andere Menschen hinein, was gar nicht da ist«, füge ich eilig hinzu. »In meinem Dorf gibt es einen ziemlich schrägen Vogel, der im einen Moment auf seine Art sehr weise und mit sich und dem Rest im Reinen zu sein scheint. Wenn ich ihn sehe, denke ich immer, dieser alte Mistkerl hat das Geheimnis des großen Glückes im Leben gelöst. Aber in Wahrheit ist er wahrscheinlich nur ein Dummkopf.«
Sie gibt ein belustigtes Schnauben von sich. »Wie witzig.« Wieder entsteht eine Pause. »Haben Sie noch immer Lust auf Lonesome Tiny?«, fragt sie nach einer Weile.
»Aber natürlich, meine Liebe. Außerdem brauche ich dringend einen der Drinks, die Sie mir versprochen haben, vielleicht sogar zwei. Aber in erster Linie will ich eines erfahren: Wenn Sie weder Schauspielerin noch Polizeibeamtin sind, was sind Sie dann?«
2
Der Auftritt von Lonesome Tiny wurde in eine Art Straßenrand-Bar-Schrägstrich-Steakhouse verlegt. Das Publikum ist bunt gemischt. Vom Studenten bis zum Rentner, vielleicht treiben sich sogar der Messerstecher und sein Bruder hier irgendwo herum. Wir quetschen uns an einen Tisch. »Ich nehme dasselbe wie Sie«, sage ich zu Amber, die wenig später mit einem Tablett mit sechs Gläsern Jack Daniel’s und einem Behälter voll Eis zurückkommt.
»Damit wir nicht ständig an die Bar rennen müssen«, erklärt sie. Mittlerweile ist ihr Lächeln zurückgekehrt. »Ich hoffe, Sie mögen den guten alten Jack auf Eis.« Sie muss laut schreien, um das Stimmengewirr zu übertönen. Der Kult-Bluesmann wird erst in einer Stunde auf der Bühne erwartet.
Wir stoßen an, und Amber kippt ihren Drink auf einen Zug hinunter. Um den Prozess der Verbrüderung durch geteiltes Leid ein wenig zu beschleunigen, hole ich tief Luft und tue es ihr nach, aber die Schärfe des Alkohols treibt mir die Tränen in die Augen.
»Sehen Sie, ich hab’s doch gleich gesagt! Sie sind echt cool«, ruft sie. »Ich hab’s doch gewusst!«
»Also?«, sage ich. »Ich bin ganz Ohr, meine Liebe.«
Mir ist klar, wieso sie unbedingt einen Drink in der Hand haben wollte, wenn sie mir ihre Geschichte erzählt. In einer überfüllten Bar zu sitzen gibt einem das Gefühl, als wäre ein Gespräch über ein heikles Thema nichts als eine gewöhnliche Plauderei.
»Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll, Angela.«
»Am Anfang, würde ich vorschlagen.«
Einen Moment lang mustert sie mich kühl, dann holt sie tief Luft und beugt sich vor.
»Ich habe Ihnen völligen Mist erzählt.«
»Das habe ich mir beinahe gedacht.«
»Weil ich wollte, dass Sie mich mögen.«
»Verstehe.«
»Ich bin nicht die, für die Sie mich halten.«
»In welcher Hinsicht, meine Liebe?«
»In jeder. Die Schauspielerei. Philly. Arthur …«
»Arthur ist also nicht Ihr Sohn?«
»Doch. Aber Philly ist kein Künstler. Und eine Blase im Kopf hatte er auch nicht. Und tot ist er genauso wenig.«
»Ah.«
»Die Wahrheit ist …« Sie hält einen Moment inne. »Ach, verdammt. Die Wahrheit ist, dass er im Gefängnis sitzt. So, jetzt ist es raus.«
Sie hebt den zweiten Jack Daniel’s an ihre vollen Lippen und schüttelt den Kopf. »Scheiß drauf!«, ruft sie und kippt ihn in einem Zug hinunter.
»Okay. Also, soll ich wirklich ganz am Anfang anfangen? Dann tu ich’s.«
Sie hat recht. Es ist tatsächlich eine lange Geschichte. Sie beginnt im New Yorker
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