Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
leibliche Mutter ist, wäre für Joshua zu viel. Es ist ja sogar für Claire zu viel. Das alles darf einfach nicht wahr sein.
„Können wir jetzt nach Hause gehen?“, bittet Joshua. „Ich will heim.“ Claire hört die Angst in seiner Stimme, weiß, er macht sich Sorgen, dass diese Fremden Eindringlinge sind, böse Menschen, die ihnen Schaden zufügen wollen.
„Josh, sobald die Leute weg sind, gehen wir heim. Das verspreche ich dir. Wir brauchen nur noch ein paar Minuten.“ Joshuabedenkt Charm, die immer noch weint, mit einem sorgenvollen Blick. „Es wird alles wieder gut, Josh. Ich kümmere mich um sie“, versichert Claire ihm. Er mustert sie eindringlich, und sie zwingt sich zu einem Lächeln. „Vielleicht kannst du mit Brynn ein wenig nach oben gehen?“ Claire schaut Brynn erwartungsvoll an, die sie jedoch nicht zu hören scheint. „Brynn“, sagt sie etwas lauter, sodass die sich erschreckt. „Kannst du mit Joshua nach oben gehen?“ Brynn nickt. „Aber Finger weg von Daddys Werkzeug, Josh. Ich komme in einer Minute nach. Mach dir keine Sorgen, das hier ist nicht wie der Überfall. Überhaupt nicht.“ Skeptisch schaut er zur Tür, die zur Wohnung im ersten Stock führt, und bewegt sich erst, als Brynn seine Hand nimmt. Gemeinsam steigen sie die Treppen hinauf.
Nachdem Claire sicher ist, dass die beiden oben angekommen und somit außer Hörweite sind, geht sie ans Telefon und wählt die Handynummer ihres Mannes. „Jonathan, kannst du bitte in den Laden kommen? Ich brauche dich.“
ALLISON
Claire geleitet uns in die Leseecke und bietet uns sehr höflich an, uns zu setzen. Trotz allem muss ich daran denken, wie sehr ich sie bewundere. Sie ist immer so ruhig und gefasst. So ausgeglichen. „Mädchen, ich weiß nicht, was genau hier los ist, aber ihr müsst versuchen, es mir zu erklären. Ich bin mehr als nur ein wenig verwirrt.“
Charm und ich sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Ich wünschte, Brynn wäre hier, würde neben mir sitzen. Ich kann nicht glauben, dass ich Claire erzählt habe, Joshuas Mutter zu sein. Ich kann ihr kaum in die Augen sehen. Claire sitzt am Tisch und schaut Charm und mich offen an. Reanne und Binks stehen in der Nähe, lauernd wie die Geier. Charm fängt wieder an zu weinen. „Allison, bitte sag mir, was los ist. Bist du Joshuas leibliche Mutter?“ An Claires Stimme höre ich, welche Angst sie hat. Das ist etwas, was wir gemeinsam haben – wir fürchten uns zu Tode, aber aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Sie hat Angst, dass ich ihr Joshua wegnehme, und ich habe Angst, dass die einzige Person in den letzten fünf Jahren, die mich nicht für ein Monster gehalten hat, erkennt, dass ich genau das bin.
Ich nicke, und ein Schatten von Trauer legt sich über Claires Gesicht.
„Es tut mir leid“, sage ich schnell. Ich will es erklären, weiß aber nicht, wo ich anfangen soll. „Ich habe das Baby bei Christopher gelassen.“
„Wer ist Christopher?“, will Claire wissen.
„Mein Bruder“, antwortet Charm leise. Tränen rinnen ihr unaufhörlich über die Wangen. Ihre Augen sind vom Weinen ganz geschwollen, und die Wange schmerzt noch immer von der Ohrfeige ihrer Mutter. „Und Joshuas Vater.“ Diese Worte richtet sie mit bitterer Stimme an ihre Mutter.
„Blödsinn“, stößt Reanne ungläubig hervor. Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. „Christopher würde sich nie mit ihr einlassen.“
„Nun, das hat er aber“, gebe ich zickig zurück. Dann wendeich mich wieder Claire zu. „Ich wollte niemandem wehtun.“
Reanne gibt einen verächtlichen Laut von sich. Claire wendet sich an sie und sagt unter Tränen: „Ich denke wirklich, dass Sie jetzt besser gehen sollten.“
Reanne macht den Mund auf und zu, als versuche sie, einen weiteren Schwall Obszönitäten zurückzuhalten. Doch dann stößt sie nur heftig den Atem aus, und eine feine Röte steigt vom Hals bis in ihre Wangen. „Nun, entschuldigen Sie bitte, dass ich nach meiner Tochter sehen wollte.“ Ihre Stimme wird immer lauter. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie vor einer irren, mörderischen Schlampe warnen wollte! Wissen Sie, wer das Mädchen ist?“, geifert sie. „Das ist Allison Glenn. Sie hat vor fünf Jahren ihre neugeborene Tochter in den Druid River geworfen. Du hättest im Gefängnis verrotten sollen!“
Mir schnürt sich die Kehle zu. Ich hatte gedacht, es gäbe nichts Schlimmeres, als wenn Claire das mit Joshua herausfindet. Ich habe mich geirrt.
„Woher wollen Sie das wissen?“,
Weitere Kostenlose Bücher