Vermählt mit einem Fremden
in dem die Dienerschaft hauste, folgte Harriette ihrer alten Kinderfrau ins oberste Stockwerk bis zur hintersten Tür in eine unbewohnte, kaum möblierte Kammer.
Meggie steuerte eine alte Truhe an und befahl Harriette: „Fassen Sie mit an.“
Gemeinsam zerrten sie das schwere Teil an seinen Griffen in die Zimmermitte, wo Meggie die Schnallen öffnete und den Deckel aufschlug. Zwischen Lagen von Seidenpapier schimmerten zartfarbene, hauchfeine Stoffe. Der schwere Duft von Lavendel und Rosen stieg Harriette entgegen. Sie nieste heftig und sagt: „Guter Gott! Was ist das?“
„Die Kleider Ihrer Mutter, Miss. Was ich davon beiseiteschaffen konnte.“
„Von meiner Mutter?“ Verwundert umklammerte Harriette den Truhenrand. „Ich dachte, mein Vater hätte alles weggegeben.“
„Na, die hier habe ich jedenfalls versteckt“, erklärte Meggie grimmig. „Es war falsch, Ihnen jedes Andenken an Ihre Mutter zu nehmen und ihren Namen aus den Büchern zu löschen, als hätte es sie nie gegeben. Und nur weil sie Französin war und wir gegen diese grässlichen Revolutionäre in den Krieg gezogen sind. Eine so gütige, freundliche Dame war sie … Also hab’ ich diese Sachen heimlich fortgepackt. Für Sie, Miss Harriette, falls Sie sie brauchen würden. Wenn das alles auch sehr altmodisch ist …“
Harriette staunte. Meggie, die so ganz unsentimentale Meggie, hat die Erinnerung an meine Mutter bewahrt …
„Sie hätten Lumpen daraus gemacht, oder eher noch hätte Lady Augusta sie für sich genommen. Das konnte ich doch nicht zulassen, oder?“
Harriette spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, sie schluckte schwer und schaute in die Truhe nieder, als könnte sie dort das Bild ihrer Mutter heraufbeschwören. „Mir ist nichts von ihr geblieben.“
„Na, nun haben Sie dies hier. Es ist nicht nach der neuen Mode, aber besser als alles, was Sie besitzen. Sie haben die gleiche Figur wie Ihre Mutter, und sehen Sie, die Farben sind noch frisch!“
Harriette erinnerte sich nur sehr vage an ihre Mutter und war mit den Geschichten Meggies groß geworden, die eine traurige, romantisch angehauchte Gestalt schilderten. Harriettes Vater hatte Chantelle Marie-Louise d’Aspré – selbst der Name klang romantisch – auf seinen Reisen in Paris noch zur Zeit des französischen Königs kennengelernt und sie sofort umworben. Sie war von ihm hingerissen, heiratete ihn und folgte ihm nach Whitescar Hall. Ob sie sich dort ebenso eingepfercht gefühlt hatte wie heute ihre Tochter? Sie starb, als ihr Töchterchen kaum sechs Jahre war, an einem unbekannten Fieber.
„Wie schick Ihre Mutter damals war! Es ist ja nun über ein Vierteljahrhundert her, dass sie hierherkam. So reizend war sie und sprühte vor Leben! Sie hätte was Besseres als Ihren Vater verdient gehabt, Kindchen! Na, Gott hab ihn selig, und sie auch.“
Zusammen lüfteten sie die Umhüllungen und stießen wieder und wieder entzückte kleine Schreie aus, als ein Gewand nach dem anderen zutage kam. Französische Mode mit engen, tief ausgeschnittenen Miedern und weiten Röcken, seidenbestickt, mit Perlen und Silberspitze besetzt, köstlich feine Stoffe, alles von bester Qualität und alles nicht zu vergleichen mit der herrschenden Mode mit ihren hohen Taillen und schmalen Röcken.
„Da!“ Meggie zog ein üppiges Stoffbündel aus cremefarbener, mit Streublümchen bestickter Seide hervor. „Ich glaube, hier ist Ihr Brautkleid!“
Harriette errötete vor Freude. Wenn der Earl zurückkam – wenn, natürlich –, was würde er sagen, wenn er sie in diesem Traum aus Seide und Spitze sah?
Die Fahrt mit dem Gig nach Brighton erwies sich wegen der von Schlaglöchern übersäten, holperigen Landstraße für Lucius als äußerst peinvoll, dabei aber höchst informativ, denn der junge Bursche, der ihn begleitete, um den Wagen später wieder zurückzukutschieren, eröffnete ihm ganz neue Einsichten über Captain Harry. Dieser Jüngling nämlich schien ihn, oder sie – das ging bei ihm bunt durcheinander –, aufs Höchste zu bewundern. Was er erzählte, empfahl die Dame zwar nicht als zukünftige Countess, sprach jedoch von ihrer Tatkraft und ihrem mutigen Sinn.
Lucius lauschte gebannt und gewann bald einen Eindruck von ihrer Einsamkeit und Isolation und ihrer ungewöhnlichen Lebensführung. Nie seekrank war der Captain, stand jeden Sturm durch, legte überall Hand an, mit Löwenmut und ohne Furcht, eine Waffe zu benutzen. Sie hatte gar einen Zolloffizier angeschossen,
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