Verplant verliebt
sah, waren Lichtfetzen, die kläglich durch den schwarzen Stoff schimmerten. Sie schloss die Augen wieder und versuchte zu akzeptieren, dass sie seiner Hand die nächsten Minuten ausgeliefert sein würde. Schon die ersten vorsichtigen Schritte auf dem unebenen Boden ließen sie taumeln, als wäre ihr Gleichgewichtssinn durch den Verlust des Sehvermögens ebenfalls ausgeschaltet. Sie konzentrierte sich auf seine kräftige Hand, die sie mit sanftem Druck nach rechts und links dirigierte, spürte den Daumen, der leicht über ihre Handfläche glitt.
Als Marie auf eine rutschige Wurzel trat, geriet sie ins Wanken. Er packte sie fester und griff mit seiner anderen Hand nach ihrem linken Oberarm, um sie zu stützen. Das Aftershave, das sie schon am Morgen im Badezimmer bemerkt hatte, stieg in ihre Nase. Es roch hölzern, ein wenig nach Salz, wie ein Lagerfeuer am Meer. Marie atmete tief ein, konzentrierte sich dann aber wieder auf den Druck seiner Hand, die sie immer näher zu ihm lenkte. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Marie merkte, wie der Weg steiler wurde. Das hieß, sie waren schon kurz vor dem Gutshaus, und für einen kurzen Moment bedauerte Marie, dass sie gleich am Ziel sein würden.
Sie hatte es sich schlimmer vorgestellt, sich ganz in die Obhut eines anderen Menschen zu begeben. Aber es war ja nicht irgendein Mensch. Es war Karlo. Selbst wenn sie fallen würde, wäre er kräftig genug, sie aufzufangen. Wahrscheinlich hatte Niko ihn deswegen zu ihrem Partner bestimmt. Klein-Albert hätte schnurstracks mit ihr im Matsch gelegen, wäre sie ausgerutscht.
Sie zuckte zusammen, als es vor ihr hektisch klatschte. Wieder dieser euphorische Niko-Applaus. Im nächsten Moment trat sie bereits von dem Rasenstreifen, der das Gut umgab, auf die knirschenden Kiesel.
„Da ist ja unser erstes Paar!“, jubelte Niko. „Das habt ihr ganz wunderbar gemacht. Wartet am besten hier, bis die anderen auch da sind.“
Karlo blieb stehen, lockerte seinen Griff, hielt Marie aber weiter fest. Sie ließ es zu. Statt sich die Augenbinde vom Kopf zu ziehen, verharrte sie reglos an seiner Seite. Sie wollte seine Hand nicht loslassen. Dann zog Karlo sie näher zu sich heran, führte ihre Hand hinter seinen Rücken und streichelte mit dem Daumen über ihren Handballen. Hin und her. Hin und her. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Unterarm aus. Es schien, als würden all ihre Sinne in ihre kribbelnde Hand schießen. Sie schmiegte sich leicht an Karlos Arm.
Dann merkte sie, was sie tat. Ihre Augen waren verbunden und sie hatte keine Ahnung, ob irgendjemand dieses Schauspiel verfolgte. Sie war umgeben von Kollegen und schmuste mit ihrem künftigen Chef.
Mit einem Ruck zog Marie ihre Hand aus seiner Umklammerung. Dann griff sie hektisch an ihren Hinterkopf und versuchte, den Knoten der Augenbinde zu lösen. Je heftiger sie zog, desto fester wurde er.
Karlo wollte ihr helfen, doch sie fuhr ihn an: „Danke, ich mache das selbst!“
Dann riss Marie das Tuch über Nase und Kinn nach unten an ihren Hals. Sie musste im grellen Licht blinzeln und es brauchte ein paar Sekunden, bis sie mehr als nur die schwarzen Umrisse von Niko erkannte. Der sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Marie drehte sich zu Karlo um. Der lächelte gequält. Die Kollegen waren noch auf dem Parcours unterwegs und mit sich selbst beschäftigt.
„Karlo, Marie?“ Niko hatte ein ernstes Gesicht aufgelegt und sprach mit nasaler, belehrender Stimme. „Gleich gehen wir in Gruppengespräche. Ich würde Sie beide gerne als erstes sprechen.“
Marie sah Karlo fragend an. Was sollte das nun wieder?
„Wir sind aber eine sehr kleine Gruppe“, scherzte Karlo.
„Ich fühle da Schwingungen zwischen Ihnen beiden, die ich gerne besprechen möchte.“ Niko zog das Wort „Schwingungen“ bedeutungsschwer in die Länge.
Marie schluckte. Die einzigen Schwingungen, die sie eben zwischen ihnen beiden gespürt hatte, waren rein körperlicher Natur. Ein dummer Anfall von Zärtlichkeit. Sie war einfach schon zu lange Single und reagierte anscheinend beim kleinsten Körperkontakt mit einem Mann über. Nun war der Körperkontakt eingestellt und damit auch die Schwingung. Da gab es nichts zu bereden.
Karlo sagte: „Zwischen Marie und mir gibt es keinerlei Schwingungen .“ Marie verkniff sich ein Grinsen, als Karlo Nikos Betonung nachäffte.
„Karlo.“ Wieder dieser Oberlehrerton. „Zwischen allen Menschen gibt es S chwingungen. Manchmal sind es gesunde Schwingungen
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