Verr�ter wie wir
ganze Jeremiade in den Nachtstunden eines weiteren endlosen Tages. Verwirrt von dem Kreuzfeuer widersprüchlicher Nachrichten behalf er sich zunächst, indem er sie mitprotokollierte – aus offizieller Sicht ein Kapitalverbrechen. Mit den bleich aus dem Gips ragenden Fingerspitzen bekritzelte er in seinem Hausmacher-Steno ungelenk einzelne A 4 -Blätter, die Ollie im Schreibwarengeschäft holte, einseitig natürlich, nicht doppelseitig.
Wie in den Schulungen vorgeschrieben, entwendete er als Schreibunterlage das Glas eines Bilderrahmens, das er nach jedem Blatt abwischte, und versteckte das Ergebnis seiner Mühen hinter dem Boiler, falls Viktor, Alexej, Tamara oder auch Dima wider Erwarten auf die Idee verfielen, sein Zimmer zu durchsuchen.
Als aber ein Frontbericht den anderen zu jagen begann, jeder komplexer als der davor, ließ er sich von Ollie einen Taschenrecorder beschaffen, ganz ähnlich dem, den er Dima gegeben hatte, und ihn an sein verschlüsseltes Handy anschließen – aus Sicht der Ausbilder eine weitere Todsünde,aber ein Himmelsgeschenk, wenn er schlaflos im Bett lag und auf die nächste von Hectors unorthodoxen Botschaften wartete:
– Es steht Spitz auf Knopf, Lukie, aber wir liegen vorn.
– Ich lasse Billy Boy außen vor und gehe direkt zum Boss. Ich habe gesagt, es geht um Stunden, nicht Tage.
– Der Boss sagt, ich muss mit dem Vize reden.
– Der Vize sagt, wenn Billy Boy es nicht absegnet, dann segnet er’s auch nicht ab. Er segnet es nicht allein ab. Er will den gesamten vierten Stock hinter sich haben, sonst geht gar nichts. Ich hab ihm gesagt, leck mich.
– Sie werden’s nicht glauben, aber Billy Boy knickt ein. Noch kämpft er wie wild dagegen an, aber selbst er riecht irgendwann die Wahrheit, wenn man ihn mit der Nase reindrückt.
Das alles innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden, nachdem Luke den Philosophenschädel die Treppe hinunterbefördert hatte – eine Tat, die Hector spontan als Geniestreich bewertete, mit der er den Vize jedoch bei näherem Nachdenken vorerst lieber nicht beunruhigen wollte.
»Kann es sein, dass unser Mann Niki auf dem Gewissen hat, Luke?«, erkundigte er sich in denkbar beiläufigem Ton.
»Er hofft es jedenfalls.«
»Tja. Hm. Ich glaube nicht, dass ich davon irgendwas gehört habe. Sie?«
»Keinen Ton.«
»Es waren zwei andere Typen, und jegliche Ähnlichkeit ist rein zufällig. Abgemacht?«
»Abgemacht.«
* * *
AmNachmittag des zweiten Tages klang Hector frustriert, aber noch nicht entmutigt. Das Kabinettsbüro hatte verfügt, dass der Genehmigungsausschuss nun doch in beschlussfähiger Anzahl zusammentreten müsse, berichtete er. Man bestand darauf, dass Billy Boy Matlock in vollem Umfang – in vollem Umfang! – von sämtlichen operativen Details in Kenntnis zu setzen sei, mit denen Hector bisher hinterm Berg gehalten hatte. Der Vorschlag zur Güte war ein Vier-Mann-Arbeitskreis, bestehend aus je einem Vertreter von Außenministerium, Innenministerium, Finanzministerium und Einwanderungsbehörde. Die übrigen Mitglieder sollten gebeten werden, die Empfehlungen post facto zu ratifizieren – nach Ansicht des Kabinettsbüros reine Formsache. Mit größtem Widerstreben hatte Hector sich auf die Bedingungen eingelassen. Dann, am Abend desselben Tages, drehte der Wind plötzlich, und Hector klang eine Spur schneidender. Lukes verbotener Recorder spielte ihm den Moment noch einmal vor:
H: Irgendwie sind uns die Schweine einen Zug voraus. Das hat Billy Boy gerade von seinen City-Spitzeln hinterbracht gekriegt.
L: Wie, uns voraus? Wie kann das sein? Wir haben uns doch noch gar nicht bewegt.
H: Laut Billy Boys Quellen plant die Finanzaufsichtsbehörde, den Antrag von Arena auf Gründung einer Großbank abzublocken, und wir sind schuld.
L: Wir?
H: Der Geheimdienst. In seiner Gänze. Die großen Finanzinstitute schreien zetermordio. Dreißig Abgeordnete quer durch die Parteien, alle gesponsert von unseren Oligarchen, setzen angeblich einen bösen Brief an den Finanzminister auf, in dem sie die Finanzaufsichtsbehörde antirussischer Vorurteile bezichtigen und fordern, dass alle unbilligenBehinderungsversuche auf der Stelle eingestellt werden. Die üblichen Verdächtigen im Oberhaus laufen Sturm.
L: Aber das ist doch erstunken und erlogen!
H: Erzählen Sie das der Finanzaufsichtsbehörde. Die sieht doch als Einziges, dass die Zentralbanken sich weigern, einander Geld zu leihen, obwohl sie genau zu diesem Zweck Milliarden an Steuergeldern
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