Verschlüsselte Wahrheit - Inspektor Rebus 05
möchte«, sagte er. »Ich hab ihm erklärt, Sie wären suspendiert, aber er ist verdammt hartnäckig.«
»Wer ist es denn?«, fragte Rebus.
»Irgendein blinder alter Typ namens Vanderhyde.«
Vanderhyde wartete immer noch, als Rebus ankam. Er schien sich ganz behaglich zu fühlen und sich auf die Geräusche um ihn herum zu konzentrieren. Allgemeines Geplauder, Telefongespräche und das Klappern von Tastaturen. Er saß auf einem Stuhl vor Rebus’ Schreibtisch. Trotz der Schmerzen ging Rebus auf Zehenspitzen um ihn herum und setzte sich. Er betrachtete Matthew Vanderhyde eine Weile. Dieser trug einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und dunkler Krawatte. Trauerkleidung. Er hatte eine Aktenmappe aus blauer Pappe dabei, die auf seinem Schoß lag. Sein Spazierstock lehnte am Stuhl.
»Nun, Inspector«, sagte Vanderhyde plötzlich, »haben Sie genug gesehen?«
Rebus verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Guten Morgen, Mr Vanderhyde. Wodurch hab ich mich verraten?«
»Sie haben irgendeinen Stock bei sich. Der ist gegen die Ecke von Ihrem Schreibtisch gestoßen.«
Rebus nickte. »Es tat mir sehr Leid, als ich hörte …«
»Bestimmt nicht mehr Leid als seinen Eltern. Sie haben im Lauf der Jahre hart an Aengus gearbeitet. Und es war hart mit ihm. Manchmal teuflisch hart. Nun ist alles dahin.« Vanderhyde beugte sich auf dem Stuhl vor. Wenn er sehen könnte, hätte sein Blick sich jetzt in Rebus’ Augen gebohrt. Doch so wie die Dinge lagen, sah Rebus die Widerspiegelung seines eigenen Gesichts in Vanderhydes Brillengläsern. »Hatte er verdient zu sterben, Inspector?«
»Er hatte die Wahl.«
»Hatte er?«
Rebus fielen die Worte des Priesters wieder ein. Kannst du für den Rest deines Lebens mit der Erinnerung und der Schuld leben? Vanderhyde wusste, dass Rebus nicht antworten würde. Er nickte bedächtig und lehnte sich ein wenig zurück.
»Sie waren in jener Nacht dort, nicht wahr?«, fragte Rebus.
»Wo?«
»Beim Kartenspiel.«
»Blinde sind schlechte Kartenspieler, Inspector.«
»Jemand, der sehen kann, könnte einem Blinden behilflich sein.« Rebus wartete. Vanderhyde saß stocksteif da wie die Wachsfigur eines Viktorianers. »Jemand wie Broderick Gibson zum Beispiel.«
Vanderhyde fuhr mit den Fingern über die blaue Aktenmappe, nahm sie und legte sie auf den Schreibtisch.
»Broderick wollte, dass Sie das bekommen.«
»Was ist das?«
»Das wollte er mir nicht sagen. Er hat nur gesagt, er hofft, dass Sie denken, es hat sich gelohnt, obwohl er selbst das bezweifelt.« Vanderhyde hielt inne. »Natürlich hat mich meine Neugier dazu getrieben, den fraglichen Gegenstand auf meine Art zu untersuchen. Es handelt sich um irgendein Buch.« Rebus nahm die schwere Aktenmappe entgegen. Vanderhyde zog seine Hand zurück, griff nach seinem Stock und legte die Hand darauf. »Bei Aengus wurde ein Schlüsselbund gefunden. Die Schlüssel schienen in kein Schloss im Haus oder in der Firma zu passen. Letzte Nacht fand Broderick dann ein paar Kontoauszüge, auf denen monatliche Zahlungen an ein Maklerbüro aufgeführt waren. Er kennt den Chef dieser Agentur und hat ihn angerufen. Aengus hatte anscheinend seit längerem eine Wohnung in der Blair Street gemietet.«
Die war Rebus bekannt. Es handelte sich um eine schmale Straße zwischen High Street und Cowgate, eine Gegend, die auf der Kippe stand zwischen gutbürgerlich und verkommen. »Niemand wusste davon?«
Vanderhyde schüttelte den Kopf. »Das war seine kleine Höhle, Inspector. Ein absoluter Saustall, laut Broderick. Verschimmeltes Essen und leere Flaschen, pornographische Videos …«
»Eine richtige Junggesellenbude also.«
Vanderhyde ignorierte die Bemerkung. »Das Buch wurde dort gefunden.«
Rebus hatte die Mappe bereits aufgeschlagen. Drinnen lag ein großes Notizbuch mit Ringheftung. Es trug keinen Titel, doch die schmalen Zeilen waren von vorn bis hinten voll geschrieben. Schon nach den ersten Sätzen wusste Rebus, was es war: das Tagebuch von Aengus Gibson.
32
Rebus saß an seinem Schreibtisch und las. Niemand kümmerte sich um ihn, da er ja eigentlich suspendiert war. Irgendwann verschwand die Sonne, und das Büro leerte sich langsam. Er hätte sich genauso gut in einer Einzelzelle befinden können, so wenig nahm er von alldem Notiz. Der Telefonhörer lag neben der Gabel, und seinen Kopf, der über das Tagebuch gebeugt war, hatte er in den Händen vergraben; ein deutliches Zeichen, dass er nicht gestört werden wollte.
Er überflog das Tagebuch
Weitere Kostenlose Bücher